Kapitel 8

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Erst zum Abendessen sehe ich Hellen. Ich weiß nicht, was sie den Tag lang gemacht hat. Ich vermute etwas gezeichnet oder etwas anderes in die künstlerische Richtung. Seit ich weiß, dass sie Kleiderentwürfe fertigt, achte ich jedes Mal, wenn ich sie sehe, genaustens auf ihre prächtigen Kleider und bin immer wieder fasziniert von ihrer Kreativität und das, was sie daraus macht. Der Duft von frischgebackenem Brot erhält jetzt meine Aufmerksamkeit und nicht mehr das sonnengelbe hübsche Rüschenkleid von Hellen, was ihren riesigen Bauch bezaubernd in Szene setzt. Ihr Bauch ist so groß, dass ich echt Angst habe, das Baby könnte noch hier an der Tafel aus ihr rauskommen, aber der Geburtstermin ist erst im Monat Oktober. Also noch gute zwei Monate, in denen ihr Bauch noch weiter wachsen wird. Vielleicht hat sie da ja einfach drei Babys drin. Das wäre auf jeden Fall was.

Das Abendessen verläuft ruhig, und es wird über dies und jenes geredet, vergessen sind die Probleme des Geschäfts. Mein Bruder, aber auch meine Mutter, haben schon immer darauf Acht gegeben, dass das Geschäftliche nie an die Familie herankommt. Was in dem Arbeitszimmer meines Bruders geschieht, bleibt auch dort. Damit habe ich kein Problem. Die Atmosphäre tut gut, und trotz meiner schmerzenden Muskeln, die das Resultat vom Training mit Viez sind, kann ich mich entspannen. Schlagartig kippt jedoch meine freudige Laune, als meine Mutter anfängt, über einen Aufstand heute in der Hauptstadt zu erzählen. Sie erklärt genau, was geschehen ist. Es wurden wohl am Nachmittag acht Personen hingerichtet, auf Befehl des Königs. Ich höre genau zu. Wer ist es wohl jetzt? Kinder, die jemanden angerempelt haben?

Und dann verschlucke ich mich an meinem Stück Brot. Hellen versucht mir zu helfen, indem sie mir heftig auf den Rücken haut. Ich bin überrascht von ihrer Stärke. Als mein Husten sich beruhigt, hört auch ihr Schlagen auf. "Bitte was?", frage ich entsetzt meine Mutter, die wohl annimmt, ich hätte das, was sie gesagt hat, wirklich einfach akustisch nicht verstanden. "Ich sagte, dass es heute mehrere Hinrichtungen in der Hauptstadt gab." Schon schlimm genug, diese Hinrichtungen. "Es wurden einmal zwei Frauen durch das Schwert hingerichtet. Sie haben sich der Hexerei und Unzucht schuldig gemacht. Und ein aufgeflogener Rebell, und..." Sie schiebt sich, als wäre es nur täglicher Klatsch, die Gabel zum Mund und kaut extra langsam, was meinen Nerven wiederum gar nicht gut tut. "... seine Frau und Kinder mit ihm" Mir wird schlecht und auch Hellen legt die Gabel zur Seite und trinkt stattdessen große Schlucke Wasser, wäre sie nicht schwanger, würde sie es wie ich tuen und ein Glas Wein exen.

"Das ist grausam, hat denn niemand was unternommen?" Mutter antwortet etwas streng. "Doch, darum geht es ja. Die Leute haben versucht, die Hinrichtung der vier Kinder zu verhindern." Mein Magen dreht sich, und ich trinke noch ein Glas Wein, das mir von einer Dienerin neu gefüllt wurde. "Ich... Das ist ja grausam, wie kann der König so etwas zulassen, geschweige denn es anordnen?" Das Zucken der Achseln von meiner Mutter macht mich aggressiv und bewirkt, dass sich meine Wut nun auch auf sie richtet. Ich gucke sie mit dem bösesten Blick an, den ich unter den Bedingungen hinkriegen kann. "Tja, wenn man seine Familie liebt, sollte man eben weise handeln und nicht so leichtsinnig wie dieser Mann, der sich Vater nennen wollte. Der König tut nur das..." Ich lasse sie nicht ausreden. "Was? Das, was der König tut, ist Mord. Nichts Weiteres als Mord. Grausamer und wahlloser Mord. Und das ist es nicht nur, weil die Hinrichtungen für irrsinnige Dinge, wie Betteln, Lieben, eine bestimmte Haarfarbe zu haben oder gar eine scheiß Meinung zu haben, angeordnet werden. Nein. Mutter. Kinder und Unschuldige werden hingerichtet."

Ich habe fast keinen Atem mehr und schütte schnell Wein in mich rein, um den Geschmack der bitteren Worte herunter zu spülen. Ich spüre eine zarte Berührung auf meinen Rücken. Hellen streichelt mich sanft, gibt aber keinen Mucks von sich. Als ich wieder zu meiner Mutter blicke, die in dem Moment genervt mit den Augen rollt, verliere ich jegliche Beherrschung. Ich schiebe den Stuhl ruckartig nach hinten und haue mit meiner Faust auf den Tisch, beim Aufprall klirrt das Besteck auf der Tafel. Als ich aus dem Speisesaal flüchte, höre ich noch, wie meine Mutter mir etwas zuruft. "Denkst du, du tötest keine Unschuldigen?" Das Wort Unschuldige spuckt sie fast aus, und ich weiß genau, was sie mir sagen will.

Als ich endlich auf meinem Zimmer bin, schlage ich mit meiner Hand so fest, ich kann gegen einen Bettpfosten. Der Schmerz, der meine Hand direkt durchfährt, holt mich zurück und ich fang an zu zittern. Ich gehe in meinem Zimmer auf und ab, reibe mir mein schwarzes Armband dabei so fest um mein Handgelenk, dass auch das irgendwann wehtut und einen breiten roten Abdruck hinterlässt. Denkst du, du tötest keine Unschuldigen? Die Worte verfolgen mich. Sie hat recht. Ich töte Unschuldige. Die Schiffe werden explodieren und das auf meine Idee hin. Ich hasse mich dafür. Der Gedanke ist mir natürlich auch schon gekommen, aber ich habe versucht, ihn im hintersten Teil meines Bewusstseins zu schieben oder mich zu rechtfertigen, aber das kann ich nicht. Beides kann ich nicht. Meine Wangen brennen, und ich brauche frische Luft. Statt einfach nur das Fenster zu öffnen, verlasse ich mein Zimmer wieder und gehe durch die Küche nach draußen in die Dunkelheit.

Ich laufe zu dem Platz, an dem ich und Viez heute Mittag trainiert hatten und bleibe vor dem Band, das er zwischen den Bäumen hängen gelassen hat, stehen. Ich atme einmal tief ein und wieder aus, dann ziehe ich meine Schuhe aus und spüre die kalte Wiese zwischen meinen Zähen kitzeln. Dann steige ich auf der einen Seite auf das Ende des Seils und halte mich dabei noch am Baum fest. Vorsichtig gehe ich weiter und löse meine Hände vom Baum. Langsam gehe ich vorwärts, immer einen Fuß vor den Anderen. Ich richte mich zu meiner vollen Größe auf und achte genaustens auf meine Haltung. Ich muss nur noch drei Schritte gehen, dann bin ich auf der anderen Seite und kann mich am Baum festhalten. Noch zwei Schritte. Ich habe das Ziel genau vor Augen, versuche, alles andere auszublenden, jeden Gedanken und springe die letzten beiden Schritte so schnell ich kann, um ja nicht zu scheitern. Ich umklammere den Baum und laufe noch mehrmals, immer wieder hin und her. Ein kleiner Sieg, ein unbedeutender, und trotzdem erfüllt er mich, gibt mir das kleine Gefühl von etwas, was ich beherrschen kann.

Nach einer längeren Zeit steige ich vom Band und spüre einen brennenden Schmerz an meinen Fußsohlen, doch es ist ein angenehmes Gefühl. Ich nehme meine Schuhe und gehe wieder in mein Zimmer und schrecke kurz auf, als ich eine Gestallt auf meinem Bett sitzen sehe. Ich erkenne Hellen, die wohl auf mich gewartet hat, wie lange sie da schon sitzt, weiß ich nicht. Ich lasse die Schuhe in meiner Hand mit einem Knallen auf den Boden fallen und gehe ins Bad. Das kalte Wasser aus dem Wasserhahn spritze ich mir in mein Gesicht und ziehe es über den Ansatz meiner Haare. Dann beginne ich damit, mich meines Kleides zu entledigen, welches ich mir nach einem Bad heute Nachmittag, angezogen hatte. Ich ziehe mir mein Nachthemd über und setze mich im Schneidersitz auf mein Bett neben Hellen. Wir beide haben bis jetzt nicht ein Wort gesagt. Sie holt schließlich hörbar Luft und beginnt.

"Es tut mir leid." Ich hebe meinen Kopf und schaue ihr in ihre Augen, in denen ich glaube, Tränen zu erkennen. Sie wendet ihren Blick von meinem ab und schaut auf ihre Hände, die sie gefaltet im Schoß liegen hat. Ich antworte ihr nicht, sie ist nämlich noch nicht fertig. "Ich hätte dir helfen sollen... Ich... Ich hätte was sagen sollen." Noch einmal flüstert sie, wie zu sich selbst die Worte "Es tut mir leid". Statt zu versuchen, das, was ich grade fühle, in Worte zu fassen, rücke ich vorsichtig näher an sie heran und nehme sie in den Arm. Sie erwidert die Umarmung, und als ich meinen Kopf auf ihre Schulter lege, rollt eine ihrer Tränen mit auf mein Gesicht. Ich hebe meinen Kopf wieder von ihr und nehme ihr gerötetes Gesicht in meine kalten Hände. Mit meinem Daumen wische ich ihr die nächste Träne weg. "Ich hab dich lieb.", sage ich nur. Sie nickt. Ja, sie hätte mir beistehen sollen, und ich hätte auch so viel machen sollen.

In dieser Nacht hat sich etwas in mir geändert, es ist etwas entstanden. Der Entschluss, etwas zu verändern, nicht nur mich zu ändern, etwas ändern.

Dabei bleibt die wichtigste Frage offen. Wie?

Die Farben der Macht - Schwarz und Lila |✔️Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt