Kapitel 43

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Kurz bleibe ich in der Tür stehen, dann gehe ich zu der linken Seite des Bettes. Die Seite, auf der mein Bruder liegt. Als ich ihn sehe, schlage ich mir die Hände vor den Mund zusammen und schreie. Schreie so laut ich kann. Und sinke auf die Knie. Da liegt er. Sein Augen gucken ins Leere. Alles Leben ist aus ihnen gewichen. Ich krieche zu ihm. Er ist Blut überströmt, seine Kehle aufgeschnitten. Ich kann nichts anderes tun als schreien und zittern. Das ist nicht wahr. Das ist nicht wahr. Ein Mantra, das ich mir immer wieder sage. Ich strecke meine zittrige Hand aus und berühre seine kalte Wange, die mit Bartstoppeln übersäht ist. "Nein, nein, nein." Ich bin direkt vor ihm, aber er sieht mich nicht an, sieht Garnichts mehr. Er ist tot. Ich weine schreiend und weinend schreie ich. "Bitte! Wach auf! Bitte..." Ein Schmerz durchfährt mich, der alles in mir zerstört. Mit einem mal ist alles weg, alles ist zerbrochen. Ich kann ihn nicht länger ansehen, schließe seine Augen und krieche wieder auf allen Vieren zur rechten Seite des Bettes. Hellen liegt da. Blass, noch weißer, als sonst. Ihre Haare liegen um sie herum. Sie hat die Augen geschlossen, ihre schönen blauen Augen. Ihr hat man auch die Kehle durchgeschnitten. Ich versuche das Blut auszublenden, nur sie zu sehen, aber alles was ich sehe, ist das Massaker. Ich nehme ihre kalte Hand, die neben ihr liegt. Halte sie fest und lege meinen Kopf auf sie. Tränen sammeln sich zwischen ihrer und meiner Haut. "Nein, nein, nein..." Meine Wangen brennen und Tränen laufen mir in den offenen Mund. "Es tut mir so leid..."

Ich schluchze und als ich wieder genug Kraft habe schreie ich noch einmal kläglich. Meinen Kopf lehne ich an den Bett Rahmen. Eine Hand in ihrer, die andere stützend auf dem Boden. Und dann höre ich plötzlich auf. Ich drehe mich schnell um und bewege mich auf das Bettchen von Ida zu. Sie können doch nicht... Sie können nicht. Der Mond scheint hell in ihr Bett. Ihre Augen sind geschlossen, sie sieht friedlich aus. Ich würde denken, sie schläft, aber ihr Brustkorb bewegt sich nicht ein Stückchen. Ich richte mich kurz auf, meine Beine halten mich nicht lange, aber lange genug um sie zu heben. Sie liegt schlapp in meinen Armen. Ich beginne sie vorsichtig hin und her zu wiegen. Sie sieht perfekt aus. Ich weine nur noch, bittere Tränen laufen über meine Haut und kommen auf ihrer porzellanzarten, weißen Haut an. Ich wiege sie immer weiter. Habe nur Augen für sie. Mir kommen Worte in den Sinn, die ich zittrig ausspreche.

"Schlaf, kleine Mücke, schlafe...

Geh fort und hüt die Sterne,

Die Sterne die am Himmel strahlen.

Und wenn der morgen kommt ,

Strahle dein Lächeln, wie die Sterne,

Die Sterne die am Himmel strahlen.

Schlaf, kleine Mücke, schlafe!"

Ich wiege sie weiter und weiter. 

Dann berührt mich jemand. Vor mir taucht Lerya auf. Sie kniet sich vor mich. Ihre Hände gleiten unter den kleinen Körper, den ich wippe. "Sie schläft. Sie ist eingeschlafen.". Ihre Worte rufen Tränen in meine Augen. "Sie schläft." Ich lasse es zu. Sie nimmt mir sie weg und steht auf. Ich kann nicht aufhören meinen Körper hin und her zu wippen. Kann es einfach nicht. Ich kann nichts mehr...

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Seths Sicht

Sie sitzt vor dem Bettchen, allein das Mondlicht macht sie sichtbar. Sie hält das Baby fest in ihren Armen, An ihren Händen klebt getrocknetes Blut und auch auf ihrem Kleid sind dunkle Flecken. Ich habe sie schreien gehört. Eine halbe Stunde hat sie nur geschrien. Keiner hat es gewagt, nach zusehen. Wir haben nur unten, nach weiteren Opfern gesucht, und zu viele gefunden.

Jetzt sitzt sie da, wiegt das kleine Bündel schon über drei Stunden. Die Sonne wird bald aufgehen und sie sitzt nur da, und weint um das Kind. Sie hat gesungen, ich konnte es von hier aus hören, ein Schlaflied, in dem sie den Namen Mücke verwendete. Noch eine Stunde vergeht, bis Lerya beschließt ihr das Mädchen wegzunehmen, erst will ich protestieren, aber lasse sie dann doch gehen. Ich folge ihr in das Schlafzimmer und versuche den beißend, metallischen Geruch des Blutes zu ignorieren, den man überall im Haus wahrnehmen kann. Vorsichtig nähere ich mich ihr. Ihre Haare fallen ihr vor ihr Gesicht und ihr Körper ist zusammengesackt, allein der Wille das Kind zu halten, hält sie. Ich streiche ihr zärtlich über die Schulter, sie zeigt keine Reaktion. Wiegt nur das Kind. Ich kämpfe selbst mit den Tränen, als Lerya ihr das Baby nimmt uns Alec weiter die Wiegebewegungen macht. Sie weint glaube ich nicht mehr.

Lerya wickelt das Mädchen noch einmal in eine weiße Bettdecke. Sie müssen sie erstickt haben, denn in ihrem Bett ist kein Blut und sie hat keine Wunden, die ich sehen könnte. Alec ist wie in einem Trancezustand und reagiert auf nichts von dem, was grade passiert. Schließlich greife Alec unter die Arme und mit meinem anderen Arm unter die Knie. Sie bewegt sich nicht, währt sich nicht, sie hängt nur in meinen Armen, ihre Arme sind noch immer in der Position, in der sie sie gehalten hat. Ihre Augen fixieren nichts besonderes. Ihr Atem geht noch immer ungleich und zwischen langen und kurzen Atemzügen, mischt sich ein Schluchzen. Ravan hat das Haus durchsucht, nach einem Raum, wo ein Bett steht. Ein Zimmer, in dem kein Toter liegt und man nichts davon merkt, was in den anderen Räumen herrscht. Ich trage sie aus dem Schlafzimmer und folge Xarish, der mich zu Ravan führt.

Das Zimmer ist groß, mit einem großen, frischbezogenen Bett, in dem länger keiner mehr lag. Ravan und Xarish gehen, lassen mich, oder eher sie, alleine. Ganz sanft lege ich sie auf das Bett. Die Matratze gibt unter ihrem Gewicht leicht nach. Sie rollt sich zur Seite und starrt ihre Hände an, die sie kein Stück bewegt hat. Sie sagt nichts mehr. Nur einen kurzen Moment beobachte ich sie, wie sie da liegt. Wie sie völlig zerbrochen da liegt.

Unten sitzen Ravan und Xarish auf einen Sofa und schauen nach draußen, wo die Sonne grade aufgeht. "Was machen wir?" Ravan sieht betrübt aus, er hat jeden Funken seiner Freude verloren. Lerya taucht auf und antwortet mir. "Wir werden fliehen. Erstmal nach Eifakei, dort werden wir gucken müssen wohin, wir als Nächstes gehen, aber ich habe Kontakte, die uns helfen werden." Ich schaue verärgert an. "Ich meine, was machen wir jetzt?!" Ich zeige nach oben. "Wir stehen in einem Haus, das voll mit Leichen ist. Wir können sie nicht einfach so lassen."

"Wir haben aber auch nicht mehr viel Zeit! Willst du etwa in ein paar Stunden Zwanzig Gräber ausheben?" Ich gehe mir frustriert durch die Haare und beginne umherzulaufen. Sie hat recht, wir schaffen es nicht. "Wir werden ihre Familie begraben, das müssten drei große Gräber und ein kleines sein. Den Rest verbrennen wir und bestatten ihn so." Ravan meldet sich endlich auch zu Wort. Lerya schaut ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an, als sie ihre Arme verschränkt und ihr Gewicht verlagert raschelt ihr Kleid leise. Wir haben alle unsere Masken abgezogen, als wir los geritten sind. Alec hatte ihre auch nicht mehr an. "Du willst also Menschen verbrennen, 17 Stück?"
"Wir werden diese Menschen nicht hier liegen lassen, Lerya!" Sie guckt wieder zu mir. "Das haben wir doch auch mit Leenia, Lola, Titan und Caspian und Klaas gemacht!" Sie ist sauer und trauert um sie. Sie kannte sie nicht lange, aber für sie ist jede Schwalbe ein Freund und das schätze ich, aber grade tut das nichts zur Sache. "Wir konnten nichts für sie tun, aber für diese Leute hier können wir es." Sie schaut runter und ihre Zöpfe fallen ihr vor ihr Gesicht.

"Gut. Ravan und du graben, ich werde mit Xarish Brennbares sammeln. Jede Leiche wird abgedeckt.", sagt sie schließlich. Xarish steht auf und stellt sich neben Lerya.

Dann tun wir, wie sie es gesagt hat. Wir verbringen die nächsten Stunden mit Graben und Xarish und Lerya sammeln, alles Holz, was sie finden können und werfen es auf einen Haufen. Auch alles, was aus Holz besteht und getragen werden kann, wird aus dem Haus geschleppt. Hinter dem Haus gibt es einen Stall mit sechs Pferden, wir werden diese entweder mitnehmen oder verkaufen, deswegen werden wir den Stall abbrennen.

Das Graben ist eine gute Ablenkung, die mich davon abhält über meine eignen Probleme nachzudenken oder über Alec, die oben liegt. Die Gedanken an Vater, Theara und Gresa verdränge ich genauso. Nachdem ich und Ravan drei große Gräber und ein kleines ausgehoben haben, helfen wir die Leichen aus dem Haus zu tragen, angefangen, mit denen, die wir verbrennen werden. Ich weiß, dass viele die Verbrennung, als barbarisch ansehen, und auch Lerya kommt aus einem Land, wo diese Art nicht gutgeheißen oder praktiziert wird. Deswegen bin ich ihr dankbar, dass sie es uns auf diese Art machen lässt und uns hilft.

Als die Sonne wieder untergeht, sind wir uns sicher, dass alle Leichen aus dem Haus sind, sogar die Alloys, liegen eingewickelt in weiß, in ihren Gräbern, die wir jetzt zu viert zu schütten. Wir haben uns gegen die Kälte Mäntel und Schaals angezogen, die wir finden konnten. Wenn Alec aufwacht und wir für unsere Flucht packen, werden wir sie um Erlaubnis bitten die Kleidung ihrer Verwandten zu tragen. Wir wollten alle nicht ohne ihr Einverständnis das Eigentum ihrer Familie und ihr tragen.

Die Farben der Macht - Schwarz und Lila |✔️Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt