Kapitel 37

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Da ich nicht mehr mit Viez trainieren kann, wird es zu meiner neuen Routine jeden Tag rennen zu gehen. Wenn mir der Sinn danach steht, gehe ich auch wieder jagen, auch wenn es wegen der Winterzeit etwas schwieriger ist, als sonst. Die Tage verlaufen gleich, ich kümmere mich mindestens eine, wenn nicht auch mehr, Stunden um Ida, spiele Karten mit Hellen oder Ma, gehe Joggen, esse und träume nachts vom Ertrinken. So laufen die Tage ab, bis endlich wieder der Tag kommt, an dem ich mich im Wald mit den Schwalben treffe und übe. Und so stehe ich wieder, abseits von den ihnen, mitten im Wald, Seth hinter mir. Die Pistole liegt in meiner rechten Hand, mit meiner Linken umschließe ich sie, um mehr Halt zu gewähren.

Seth hat, wie er es angekündigt hat, ein Ziel mitgebracht. Das Ziel ist einfach nur ein großes, rundes Stück, dickes Papier mit einem roten Punkt in der Mitte. Das Papier hängt von einem Ast, an einem großen Baum herunter. Ich ziele auf den Punkt, spanne meine Muskeln an, lege den Haken zurück und drücke den Abzug. Ein Knall, der Rückstoß, aber kein Treffer. "Versuche es noch einmal. Atme ruhiger und beuge die Knie ein wenig." Mit seinen Tipps versuche ich es nochmal, der gleiche Ablauf. Als ich schieße, treffe ich tatsächlich, zwar bin ich noch weit vom roten Punkt entfernt, aber ich habe den Kreis getroffen. "Gut." Es ist nur eine knappe Bemerkung, aber sie bringt mich dennoch zum schmunzeln und ich muss mich anstrengen, nicht zu grinsen. Er kommt zu mir und nimmt mir die Waffe aus meinen Händen. Er streckt die rechte Hand aus, in der die Pistole steckt, spannt und drückt ab, trifft ins Rote und widerholt den Vorgang so schnell, dass ich es kaum bemerke. Er lässt den Arm wieder sinken und zieht eine Augenbraue hoch. "Genial", sage ich so herablassend, wie es mir möglich ist, aber ich bin nicht unbeeindruckt.

Seths Haltung ist immer sehr graziös, ich habe ihn selten, fast nie, in einer lässigen Pose gesehen. "Versteck deine Bewunderung nicht.", stichelt er und ich verdrehe übertrieben die Augen. Die Tatsache, dass er hauptsächlich schwarze Kleidung trägt macht all seine Bewegungen noch eleganter und strenger. Es ist aber nicht die Strenge die Xarish ausstrahlt, diese abwesende Stärke, es ist eine ansehnliche, ich möchte es ungern zugeben, aber eine attraktive Strenge. Ich schließe die Augen, um auf andere Gedanken zu kommen. "Woher kanntest du Caspian und Klaas nochmal?" Es ist ein Themenwechsel, das muss ich ihm lassen. "Sie waren auf einem Ball meiner Familie. Freunde meines Freundes." Er stößt mit seinen Fußspitzen kleine Steine vor sich her. "Der Freund..." Er muss nicht weiterreden, also unterbreche ich ihn. "Ja" Er nickt. Ich muss an die Frage denken, die mir Klaas gestellt hatte und über meine Überlegungen danach.

Warum ist Seth hier? Warum will er den König umbringen? "Warum bist du hier?" Er schaut mich wieder mit der hochgezogenen Brauen an. Ich sehe, wie ein Muskel bei ihm am Kiefer zuckt, und auch seine, auf dem Rücken verschränkten, Arme spannen sich etwas an. Es dauert bis er antwortet. "Zum einem wegen meiner Familie, und zum anderen, weil ich nicht wie sie bin." Mehr sagt er nicht. Ich würde gerne mehr erfahren, mir brennt die nächste Frage auf der Zunge, aber ich schrecke vor ihm und vor seiner Familie genug zurück, um mich zurückzuhalten. Er bleibt still, aber wirkt nicht traurig, einfach nur still. Er bleibt nicht lange so still und schon bald ist die kleine Unterbrechung vergessen. Pistolen sind definitiv nicht meine liebste Waffe, so viel weiß ich, dank Seth.

Ich spiele mit Ma Karten, nicht wie mit Hellen auf dem Boden, sondern an einem kleinen Tisch, der eigentlich für Schach gedacht ist. Leider ist sie nicht wie Hellen und ich habe sie noch nicht ein einziges Mal besiegt, was sehr an meinem Stolz kratzt. Phileas kommt nach Mutter, das merke ich jedes Mal, wenn ich sie zusammen oder auch nur einen von beiden sehe. Allein ihre Augen sind so gleich und so schön, dass keine Zweifel bestehen, dass sie seine Mutter ist. Und das obwohl sie nicht einmal die selbe Augenfarbe haben. Während Ma helle, braune Augen hat, tragen Phileas Augen eine Mischung aus Grün und Braun. Auch die Haare und andere Gesichtsmarker, wie die Nase sprechen für sich. Ida weist, meiner Meinung nach, zwar mehr Merkmale ihrer Mutter auf, aber hat auch ein paar Dinge von der Seite ihres Vaters, wie kleine Augen. Ich komme weniger nach meiner Mutter, die Größe habe ich von ihr, aber mein Vater war auch nicht klein.

Das letzte, und fast einzige Mal, dass ich mit Mutter über Pa geredet hatte, war am Sommerball, auf der Bank unter dem Sternenhimmel. Sie hatte mir etwas über ihn, den Hochzeitsantrag und seine Leidenschaft für Sterne und Sternenbilder erzählt. Ich würde gern noch mehr hören, weiß aber nicht, wie ich das Thema sensibel, und so anspreche, dass sie wirklich mit mir über in spricht. "Haben wir noch Vaters Schusswaffen?" Ich weiß die Antwort, nein, aber es war ein Versuch ins Gespräch zukommen. Sie guckt weiter auf die Karten in ihrer Hand, nicht zu mir. "Wir haben noch einen alten Revolver irgendwo." Jetzt schaue ich überrascht. Einen Revolver. In unserem Haus. Von Vater. "Wo?", frage ich, das Spiel völlig außer Acht. Als ich nichts unternehme, als ich dran bin, schaut sich mich endlich an. "Ich habe ihn in meinem Zimmer." Mein Herz schlägt ein wenig schneller, aber vor Freude, nicht vor Angst oder Nervosität, dass wir eine illegale Waffe besitzen. "Kann ich ihn sehen?" Sie nickt und erhebt sich sofort, womit ich nicht gerechnet habe. Ich stehe auch auf und folge ihr die Treppen in ihr, etwas kleines Schlafzimmer.

Sie läuft zu ihrem Bett und holt eine Schachtel hervor. Diese ist völlig eingestaubt. Sie legt sie auf das Bett und ich stehe direkt neben ihr, um alles sehen zu können. Mit ihrer linken Hand wischt sie den Staub vorsichtig von dem Deckel der Schachtel. Als die Staubschicht verschwunden ist, erkenne ich, dass die Box eine graue Farbe hat, und darauf das lilaschwarze Wappen des Königs. Des alten Königs, für den mein Vater gearbeitet hat. Das Wappen besteht aus einem Reh, und auf dem Kopf des Rehs ist eine große Krone zu sehen. Die dunklen Farben, wirken elegant und gefährlich. Bei dem neuen Wappen wurde das Reh durch einen Hirsch, mit großen Geweih ausgetauscht, und der Ramen des Wappens ist mit noch mehr Schnörkeln und zusätzlich mit Gold geschmückt. Es soll mehr Stärke und Reichtum ausstrahlen, als sein Vorgänger. Sie hebt den Deckel, von der Schachtel und darin befindet sich auf einem lila Samtkissen der Revolver. Er ist kleiner, als die Pistole, mit der ich geschossen habe und vorne, in der Walze, sind die Plätze, für die Kugeln. "Haben wir Munition?"

Sie hebt das Kissen, an den Rändern hoch, darunter befindet sich ein Säckchen, auch aus Samt, aber schwarz. Sie holt es heraus, öffnet es und zieht eine Kugel raus. Sie dreht sie zwischen Daumen und Zeigefinger imposant hin und her. "Nimm ihn. Ich kann damit nicht anfangen, vielleicht kannst du es ja." Kurz überlege ich, ob sie mir in irgendwas auf die Schliche gekommen sein kann und ist. Wenn wäre es mir egal, solange sie nichts sagt, werde ich es auch nicht. Und den Revolver nehme ich ohne Zweifel an. "Wirklich?", frage ich vorsichtshalber noch Mal nach, um nicht zur direkt und unverschämt zu wirken. "Ja. Geh nur weise mit den Kugeln um." Ma packt nach und nach alles zusammen und reicht mir die Schachtel dann mit beiden Händen. Ich nehme sie ehrfürchtig entgegen. Ich will noch viel mehr Fragen stellen, aber bin mir unsicher, wie sie reagieren würde, deswegen bleibe ich stumm, bedanke mich und bringe den Revolver meines Vater in mein Zimmer. Ich stecke Kugeln in die Waffe und spiele ein bisschen damit rum, ziele auf Sachen, die ich nicht abschieße oder versuche sie, so wie es Seth getan hat, um meine Finger und Hand zu kreisen. Ich sehe dabei absolut albern aus, aber ein, zwei Mal kriege ich es hin. Auch ich packe nach einiger Zeit, alles wieder ordentlich zusammen, und schiebe die Schachtel unter mein Bett.

Ich denke noch eine Weile über Pa nach. Ich habe eine Erinnerung an den Tag, als er starb. Er starb nur kurz vor dem Tod des früheren Königs, König Brahey, der Zweite. Er starb zu Hause, an einem Herzstillstand. Er war grade mal 41 Jahre. Ob es wohl schöner ist zu Hause zu sterben? Die Frage ist völliger Schwachsinn, schließlich interessiert einen selbst das eh nicht mehr. Ich frage mich, wie es wohl wäre, wenn er noch leben würde. Er könnte im Schloss für den neuen König arbeiten, würde seine Enkelin wahrscheinlich bis aufs Ganze verwöhnen und Ma wäre bestimmt auch sehr anders, was ihre Art und Laune angeht. Die Erinnerung ist nicht wirklich angenehm. Ich habe den Tod meines Vaters nicht mit eigenen Augen gesehen, keiner hat das, er wurde in seinem Büro gefunden. Phileas hat es übernommen, ich hätte es nicht getan.

Der Gedanke, dass unser Vater, in diesem Raum gestorben ist würde mir irgendwie nicht sonders gefallen. Ich kann mich an den Schrei von meiner Mama aber genau erinnern, als ich zu ihr wollte kam mein Bruder aus dem Zimmer, der auch zu ihr geeilt war, und hielt mich fest. Er wollte nicht, dass ich ihn sehe, damit ich ihn lebend in Erinnerung behalte. Und das habe ich auch. Ich bin ihm dankbar für seine Fürsorglichkeit, dennoch, ich hätte ihn gerne noch ein letztes Mal gesehen. Bei seiner Beerdigung wurde er in einem geschlossenen Sag transportiert, er wurde auf einem staatlichen Friedhof begraben. Ich schäme mich dafür, dass ich ihn nie wirklich besucht habe, schon sehr lange nicht mehr. Morgen werde ich ihn besuchen. Es fühlt sich komisch an, es zu beschließen, aber noch habe ich die Zeit dafür. Denn schon übermorgen ist die letzte Versammlung, vor dem Anschlag. Und nur zwei Tage danach, werde ich mit Seth in einer Kutsche, mich als eine Andere ausgeben, auf einen Maskenball gehen und einen Mord begehen, der hoffentlich etwas ändern kann.

Die Farben der Macht - Schwarz und Lila |✔️Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt