𝐊𝐚𝐩𝐢𝐭𝐞𝐥 𝟒𝟕

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Silvan

Morgens habe ich mir das Aufwachen anders vorgestellt.

Sehr anders.

„Silvan?" Emilias Stimme klang näher, als erwartet.

„Hallo?", fragte sie.

„Silvaaaaan?" Ihre Stimme wurde lauter, als sie meinen Namen in die Länge zog.

„Wie kann man nur so tief schlafen?"

Es wurde still und ich dachte eine Sekunde lang sie hätte aufgegeben.

Doch ich lag falsch.

Natürlich musste ich falsch legen.

„Hallo?", flüsterte sie. Ihr heißer Atem prallte auf meine Haut ab und es fiel mir schwerer als erwartet, die Gänsehaut zu unterdrücken. „Silvan?", fragte sie, diesmal etwas lauter. Ihre Nase streifte mein Ohr und ich biss die Zähne zusammen.

„Bist du wach?", fragte sie.

Ein müdes Seufzen entwich meinen Lippen und ich rollte innerlich mit den Augen. Wie soll man bei ihrem Mund auch schlafen können?

„Na gut. Dann gehe ich halt alleine nach draußen."

Sofort setzte ich mich auf und brachte sie leicht zum Aufzucken. Große Augen trafen auf meine müden und das freche Grinsen auf ihren Lippen verschwand wie auf Knopfdruck. Ihre Wangen wurden rot und sie blinzelte ein paar Mal, bevor sie sofort den Blick abwendete und runter auf die Matratze schaute. Ihr Selbstbewusstsein war wie vom Erdboden verschluckt.

"Ich wollte dich was fragen", sprach sie und gewann meine Aufmerksamkeit. Unsichere Augen trafen auf meine und ich machte mich auf die Worte bereit, die jeden Moment über ihre Lippen gleiten würden.

"Ich will meine Mutter sehen."

Etwas in mir drinnen zog an den Fäden. Es ist nicht so, als hätte ich es nicht erwartet. Ich wusste, dass diese Frage so oder so mal kommen würde. Jedoch waren meine Antwort und meine Gründe das, wovor ich mich verstecken wollte. Das wird nicht einfach.

"Das geht nicht", sprach ich knapp und setzte mich komplett auf.

Ihre Augen verloren ihr Licht und ich wollte nichts lieber, als meinen Kopf unter kaltes Wasser zu drücken, um mir die Luft zum Atmen zu nehmen. Ich sag doch.

Nichtmal glücklich kann ich sie machen.

"Wieso?", fragte sie. Ihre Stimme längst nicht mehr so selbstbewusst wie vor ein paar Sekunden.

"Das muss ich dir nicht erklären", antwortete ich schulterzuckend und stand auf. Ihre Augen brannten weiter Löcher in meinen Rücken.

"Jemand kann doch mitkommen? Einer von den Jungs-"

"Emilia", unterbrach ich sie. Mein Ton wurde härter und die Geduld in mir kleiner. "Keine Widerrede."

Es wurde still und ich schluckte meine Reue runter. Wie sehr ich es auch hasse, sie zu kontrollieren, es muss so sein. Ihre Sicherheit geht vor. Immer.

Als ich gar nichts mehr hörte und davon ausging, dass sie bereits den Raum verlassen hat, ging ich auf meinen Kleiderschrank zu und zog mir das Shirt über den Kopf. Während ich nach frischen Klamotten suchte, konnte ich spüren, wie sich jemand mir näherte.

Alarmierend spannte ich den Kiefer an und ließ meine Arme zurück zu meinen Seiten fallen. Scheiße.

Sie war nie gegangen.

Zwei Hände an meinem Rücken ließen mich heftig aufzucken. Sie waren warm und sanft. Sie berührten mich so, als wäre ich Porzellan.

Ohne, dass ich was dagegen tun konnte, spannte ich mich komplett an.

Sie sieht mich.

Ohne all den Klamotten. Ohne die Maske.

Sie sieht meine Vergangenheit.

Zwei zierliche Finger fuhren über die Narbe, die die Mitte meiner Wirbelsäule zierte und es fiel mir immer schwerer zu atmen. Wieso ließ ich sie? Wieso schubste ich sie nicht weg?

Warum tut es so gut?

"Silvan", flüsterte sie leise. Ihre Stimme bedeckt von Benommenheit. "Oh, Silvan."

Ich schloss die Augen. So fest, dass es anfing zu ziehen. Ich will dieser Scheiße entfliehen. Nur wie?

"Wer hat dir das angetan?"

Ein zittriges Atmen entwich mir und ich machte wieder die Augen auf. Meine Stille ließ sie verstehen und sie wurde wieder leise.

Ihre Berührungen jedoch immer lauter.

Eine Hand fuhr über die eine Narbe, während die andere Hand über die nächste fuhr. Ich wusste nicht mehr, auf was ich mich konzentrieren sollte. Auf sie? Auf das Brennen in mir drinnen? Auf das Bewusstsein darüber, dass sie nun die Person in meinem Leben war, die am meisten von mir gesehen hat? Am meisten von mir wusste?

Mehr, als ich zeigen wollte?

Zarte Lippen machten Kontakt mit meiner Haut und mein Herz setzte aus. Das Brennen wurde stärker, während der Druck auf meiner Brust intensiver wurde und ich wollte nichts anderes, als endlich loszulassen.

Doch ich konnte nicht.

Ich bin nicht schwach.

Ich will nicht schwach sein.

Sie küsste jede Narbe. Jede verfickt nochmal Einzelne. Bis keine mehr übrig war. Ich zählte mit. Ein paar Narben hatte sie sogar mehrmals geküsst. Es waren genau die, die sich am meisten in meinen Kopf eingebrannt haben über die Jahre. Die, die am meisten Schäden hinterlassen haben.

Ihre Berührungen waren anders, als die, mit denen ich immer bekannt war. Sie waren nicht schnell, fest oder grob. Sie waren sanft, leicht und vorsichtig.

Mein siebzehnjähriges ich hätte mich wahrscheinlich nicht wieder erkannt, aber sie waren beinahe liebevoll. Als könnte sie mir mit diesen Küssen und Berührungen ihre Gefühle wortlos mitteilen.

Ihr Kopf legte sich auf meinen Rücken ab und ihre Arme wickelten sich um meinen Torso. Die Kälte wandelte sich in Wärme um, und ich fühlte mich nicht mehr alleine. Alles hatte wieder Farben und ich spürte etwas, dass ich schon lange nicht mehr spüren durfte.

Das Gefühl, von einem Zuhause.

Sie war mein Zuhause.

Fest schluckte ich auf. Die Luft wurde immer dünner.

Ich will sie nicht lieben.

Aber sag mir

Hat man überhaupt eine Wahl wenn es um solch eine Entscheidung geht?

Ich hatte nie eine Wahl gehabt. Ich musste mich immer für das entscheiden, dass übrig blieb.

Und zum ersten Mal in meinem Leben war ich froh darüber.

Denn sie hat mir die Farbe geschenkt, die ich brauche, um mein graues Leben auszumalen.

"Du bist stark", flüsterte sie leise und kuschelte sich mehr an mich ran. "So verdammt stark."

Mein Mundwinkel zuckte.

Sie hat zum ersten Mal geflucht.

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𝐒𝐢𝐥𝐯𝐚𝐧 ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt