𝐊𝐚𝐩𝐢𝐭𝐞𝐥 𝟏𝟒

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Silvan

Still liefen wir nebeneinander her und ihre Augen blickten in alle Richtungen, die dieser Ort besaß. Selbst in der Dunkelheit konnte ich erkennen wie sie anfingen zu leuchten, sobald sie auf Dinge trafen, die in der Innenstadt Berlins eigentlich nicht existierten. Sie hatte die Arme vor ihrer Brust verschränkt und lief beinahe schneller als ich. Noch nie in meinem Leben habe ich ein so neugieriges und aufgeregtes Mädchen gesehen, wie sie.

Nachdem sie ihre Arme von mir genommen hatte, entfernte sie sich erst einmal ein paar Schritte von mir, bevor sie mir ein kleines Lächeln schenkte und verlief. Ich erwachte aus meiner Schockstarre und lief ihr hinterher. Meine Wut hatte wieder das Schlechteste aus mir herausgebracht und mich unbedacht handeln lassen. Meine Wort waren zu laut und zu schnell, um sie zurückzunehmen. Sie schaute mich nicht an und ich brachte sie dazu.

Dann sah ich ihre Tränen.

Und ich spürte wie alles um mich rum stehen blieb. Ich hasste es Leute zum weinen zu bringen. Es waren immer Männer oder Jungs. Doch ein Mädchen weinen zu sehen war mir zu viel. Sie weinen zu sehen war mir zu viel. Sie nahm es mir noch nicht einmal übel. Ich wusste, dass sie es aus Angst tat. Sie hatte wie jeder andere Angst vor mir und ich hasste es. Und plötzlich lagen ihre Arme um mich und ihr süßer Duft verwöhnte meine Sinne. Die Kälte verschwand und mein Körper war umhüllt von Wärme, die ich schon seit langem nicht gespürt habe.

Ich schaffte es nicht zu reagieren. Ich konnte es nicht. Also tat sie das Gegenteil von dem, das ich wollte. Sie löste sich von mir.

„Silvan?", ihre leise Stimme ertönte neben mir und ich blickte zu ihr rüber. Ihr Kopf lag etwas schief und ihre Augen blickten fraglich in meine. Ich wusste, dass sie mich etwas fragen würde. „Hm?", antwortete ich und schaute zu wie sich ihr Tempo verlangsamte bis wir beide komplett stehen blieben. Ein paar Leute liefen an uns vorbei und die Hupen der Autos hallten durch die Straßen, doch ich schaffte es mich einzig und allein auf das Mädchen vor mir zu konzentrieren.

„Wirst du mir irgendwann erklären wie du darein geraten bist?"

Ich biss die Zähne zusammen. Jeder in meinem Umkreis kannte ungefähr einen kleinen Teil meiner Gesichte, doch niemand kannte die ganze. Einem fremdem Mädchen sie einfach anzuvertrauen wäre dumm. Aber sag mir, wann tat ich mal etwas richtiges?

Ich ging weiter und sie stolperte mir wie ein tollpatschiges Kind hinterher.

„Ich hatte ein normales Leben", fing ich an und konnte vom Augenwinkel aus erkennen, wie sie mir fixiert zuhörte. „Wie du", sprach ich und ließ meine Hände in meinen Jackentaschen verschwinden. „Ich lebte mit meiner Mutter und meinem Vater zusammen und war noch relativ jung. Wir hatten Geldprobleme und mein Vater war fast nie zu Hause. Irgendwann stand dann die Polizei vor unserer Tür."

Ich schluckte und versuchte meine Stimme stark zu halten. Was wurde aus vergessen?

„Er wurde wegen Mord an drei Personen schuldig gesprochen. Damals war ich 10", sagte ich und blickte zu ihr runter, um festzustellen, dass sie ihren Blick immer noch nicht von mir abgenommen hatte. Ihre Augenbraue waren zusammengezogen und etwas trauriges spiegelte sich in ihren Augen wieder. Ich räusperte mich und wendete den Blick ab, bevor ich die Chance hatte ihr Mitleid sehen zu können. „Sein Urteil stand fest. Lebenslang."

„Ich war damals noch zu jung um es zu verstehen, doch mit der Zeit realisierte ich dann, in was für eine Scheiße er gesteckt hatte. Es waren nur noch ich und meine Mutter." Meine Brust zog sich zusammen, als ihr lächelndes Gesicht in mein Sichtfeld kam. „In einer Nacht war ich etwas später draußen und ich hörte wie jemand nach Hilfe schrie. Ich folgte den Stimmen und fand zwei Personen, die auf einen älteren Mann zuschlugen. Ich wollte helfen und lief auf sie zu, doch sie waren zu stark. Sie brachten mich zu Rober- einem bestimmtem Mann."

Erst jetzt bemerkte ich wie sehr sich unsere Situationen ähnelten.

„Roberto?", fragte sie und ich blieb abrupt stehen. Meine Augen trafen auf ihre und ich spürte wie mein Herz schneller wurde. „Woher weißt du das?", fragte ich sie und sah zu wie einer ihre Mundwinkel hoch zuckten. Süße Grübchen zierten ihre Wangen und ich schaffte es nicht wegzuschauen. „Ich war schneller, als du", sprach sie und und zuckte mit den Schultern. Sie schien meine Verwirrung zu bemerken und lächelte breiter. Ein Seufzen entwich meinen Lippen und mein Kopf schüttelte sich wie von selbst. Verrücktes Mädchen.

„Wie ging's weiter?", ihre neugierige Stimme brachte mich aus den Gedanken und ich blickte in die Richtung der alten Geschäfte. „Er zwang mich dazu, für ihn zu arbeiten. Ihm war es egal, dass ich erst 12 war. Ich hatte etwas gesehen, das ich hätte nicht sehen sollen. Er würde mich nicht so einfach gehen lassen" Genauso wie sie. Ich will sie von diesem Leben so gut wie möglich fern halten. Beschützen. Sie soll nicht so wie ich enden. „Zuerst währte ich mich, doch hörte auf, als sie von meiner Mutter sprachen. Sie wussten von ihr" sprach ich und schaute auf um ihren weit geöffneten Augen zu begegnen. Das Lächeln war weg und Terror bedeckte die hellbraune Farbe ihrer Augen.

„Ich hatte keine andere Wahl." Meine Stimme blieb hart. „Dann erfuhr ich von unseren sogenannten Konkurrenten. Sie waren wie wir. Leute die es nicht weit geschafft haben oder am falschen Ort im falschen Moment waren. Wir waren trotzdem Feinde. Es stand fest, sobald ich sehen konnte wie Roberto von ihnen und ihrem Anführer sprach."

Meine Kehle zog sich zu und meine Atemzüge wurden unregelmäßiger. Hier kommt der schlimmste Part.

„Auch sie erfuhren von meiner Mutter", meine Stimme gab auf. Ich konnte nur noch flüstern. Ihre Augen füllten sich mit Tränen, als sie bemerkte worauf ich hinauswollte. „Jetzt wirst du auch verstehen, warum ich diesen Jungen in der Gasse verprügelt habe. Er war einer von ihnen. Einer mehr der daran Schuld war. Schuld daran, dass sie sie umgebracht haben."

Stille. Tote Stille. Die Atmosphäre war so undefinierbar und mir fiel es immer schwerer Luft zu bekommen. Ich konnte sie nicht anschauen. Ich wusste, dass wenn ich es tat, ich genau das sehen werde, wovor ich mich die ganze Zeit fürchtete.

Sie fragte nicht wie ich es herausfand, noch sagte, dass es meine Schuld war.

Sie kam einen Schritt auf mich zu und legte zum zweiten Mal heute ihre Arme um meinen Torso und ich erwischte mich dabei wie ich ihre zierliche Umarmung erwiderte. Sie sagte nichts. Sie weinte einfach nur. Stumm. Ihre Schultern gingen auf und ab und sie verfestigte ihren Griff um mich. Sie erklärte es mir ohne Worte.

Ich bin da.

Ich verstehe dich.

Es ist in Ordnung.

Es ist nicht deine Schuld.

Ich bin hier.

Du bist nicht alleine.

Du wirst es niemals sein.

Während ich sie näher zog und mein Kinn auf ihren Kopf ablegte traf mich die Realisierung wie kaltes Wasser.

Ich war in den Armen eines Mädchen, dass das komplette Gegenteil von mir war und mich trotzdem am meisten verstand.

𝐒𝐢𝐥𝐯𝐚𝐧 ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt