𝐊𝐚𝐩𝐢𝐭𝐞𝐥 𝟔𝟎

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Emilia

Die Autofahrt verlief angenehm. Die ganze Zeit hielt ich seine Hand und fuhr die Linien seines Tattoos nach. Es schien ihn nicht zu stören. Völlig im Gegenteil. Es schien ihm zu gefallen. Zu beruhigen. Ich konnte es an seiner Haltung sehen. Er sah entspannt aus. Nicht wütend oder versteift.

Es ließ das kleine Lächeln auf meinen Lippen nur wachsen.

Ich habe mich dazu entschieden ihm das Ziel für heute zu überlassen. Ich wollte, dass er mich genau dahin brachte, wo er die besten Dinge erlebt hat. Selbst wenn ich bezweifelte, dass solche Orte existierten.

Meine Absicht war simpel. Ich wollte mehr über ihn wissen. Ihn kennenlernen. Alles wissen, was ihn betraf. Ich wollte ihn auswendig lernen. Wie ein Gedicht.

Was mich am meisten überraschte war, dass er mich ließ.

Zuerst war er misstrauisch und zögerte bis er bemerkte, dass ich nicht nachgeben würde. Also...hier sind wir.

Das Auto wurde langsamer und ich blickte mit neugierigen Augen um mich rum. Die Umgebung war voll gepflanzt mit Bäumen und Natur. Keine Gebäude oder Menschen in Sicht. Verwirrt runzelte ich die Stirn. Was taten wir in einem Wald?

"Du kannst aussteigen", sprach er und schnallte sich ab, bevor er ausstieg. Mit einem Kopf, der nicht aufhörte nach Optionen zu suchen, machte ich langsam die Tür und schloss sie vorsichtig, als ich draußen auf dem weichen Waldboden stand.

Silvan schloss ab und nickte in die Richtung eines Steinweges. "Komm."

Ich erwiderte dazu nichts und folgte ihm still. Seine Schritte waren schnell, doch wurden langsamer, als er bemerkte, dass ich Schwierigkeiten dabei hatte, ihn einzuholen. Mit fragenden Augen schaute ich mich um und wurde langsamer sobald ich erkennen konnte, worauf genau wir uns zubewegten.

Ich riss die Augen auf und holte die letzten Schritte auf, bevor ich genau neben ihm lief. Mit einem aufgeregten Lächeln griff ich nach seinem Arm und schaute durch die Gegend.

„Es ist nicht viel aber-"

„Machst du Witze?", unterbrach ich ihn und blickte ihn entgeistert an. „Es ist wunderschön."

Wir standen auf einem riesigen Hügel, mit genau einer Bank. Man konnte ganz Berlin von hier aus erkennen. Die Dunkelheit gab dem ganzen nur noch Extra-Effekte. Es erinnerte mich irgendwie an Rapunzel und die Lichter. Es war ohne Zweifel perfekt.

„Warst du schon oft hier?", fragte ich ihn und ging ein paar Schritte vor, um mehr Ausblick auf die Stadt zu haben.

Ich wartete auf seine Antwort, doch keine kam. Stattdessen ging er an mir vorbei und lief geradeaus auf die Bank zu, bevor er sich langsam auf ihr nieder ließ. Sein Blick galt der Stadt alleine.

Erst zögerte ich, doch sammelte schließlich meinen Mut zusammen und ging vorsichtig auf ihn zu, bevor ich mich genau neben ihn setzte. Ich legte den Kopf schief und runzelte die Stirn, bevor ich meine Hand auf seinen Arm legte. „Ist alles okey?", fragte ich ihn leise.

Seine Schultern sackten ein und er spannte den Kiefer ein, bevor er stark schluckte. Stumm schüttelte er mit dem Kopf.

„Was ist denn los?" Meine Stimme war leise und unsicher. Ich hatte Angst etwas falsch zu machen.

„Nachdem meine Mutter gestorben ist", fing er an und machte eine kurze Pause, bevor er die Augenbrauen zusammenzog und den Blick abwendete. „Da kümmerte sich jemand bestimmtes um mich."

Fragezeichen und noch mehr Fragezeichen bildeten sich in meinem Kopf, doch ich blieb still und hörte ihm zu.

„Er hieß Markus." Ich konnte sehen, wie sich seine Arme anspannten bei der Erwähnung dieses Namens. „Er war wie ein Vater, den ich nie hatte."

Schluckend legte ich meine Hand, die bis vor kurzem noch auf seinem Arm ruhte, auf seine Hand und umschloss diese fest. Seine Augen glitten runter und er seufzte ergeben auf.

„Wir sind oft hierher gekommen. Er wollte mir zeigen, dass es auch schöne Dinge an unserer Stadt gab. Egal, wie sehr ich auch anfangs dagegen war." Seine Stimme wurde mit jedem leiser und das Klopfen meines Herzen schneller.

„Als er starb", gab er leise von sich und blickte mit schmerzenden Augen zu mir runter. „Da habe ich mich verloren gefühlt. Ich wollte mir das Leben nehmen."

Meine Augen fingen an zu brennen.

„Ich wollte einschlafen und nie wieder aufwachen. Eine Pause machen", flüsterte er und befeuchtete seine Lippen. „Ich war enttäuscht. Denn er starb, obwohl Roberto nie was von ihm wusste."

Ich legte meinen Kopf auf seine Schulter ab und lehnte mich mehr in ihn rein, bevor ich zittrig ausatmete. Sein angenehmer schöner Duft half nicht mehr.

„Wieso ist er trotzdem gestorben, Emilia?"

Die erste Träne fiel und ich hatte Angst aufzuschauen. Ich wollte seinen Blick nicht sehen. Seinen Schmerz.

Was hat er getan um das alles zu verdienen?

Seine Hand verschränkte sich mit meiner und ich konnte spüren wie er seine Hand auf meine Wange legte, bevor er anfing sanfte Kreise auf meine Haut zu malen. Zögerlich blickte ich auf und traf seinem warmen Blick. Ich sah zu viel. Es verwirrte mich.

„Ich weiß, dass ich schwierig bin", gab er zu und lehnte sich vor bis ich seinen heißen Atem auf meiner Haut spüren konnte. „Aber ich flehe dich an, versteh mich. Verlass mich nicht. Hab keine Angst vor mir."

Leise schluchzte ich auf, bevor ich seine Hände von mir drückte und mich in seine Arme schmiss. Sobald sich mein Gesicht in seine Brust vergrub, glitten seine Hände schon meinen Rücken entlang und endeten in meinen Haaren.

„Wie könnte ich das je?", murmelte ich gegen den Stoff seiner Lederjacke und küsste seine Brust. „Du bist zu gut, um gehasst zu werden."

„Ich liebe es wie du immer versuchst zu helfen", flüsterte er gegen meinen Hals.

„Wie war er so?", fragte ich und löste mich wieder von ihm, bevor ich zu ihm aufschaute. „War er auch so ernst?"

Er lächelte leicht und ich wollte nichts lieber als sein Lächeln abzufotografieren. Abzuspeichern. In meinen Kopf, meinem Herzen und überall, wo nur ich es sehen kann. Ich war verliebt in sein Lächeln. So verliebt.

„Er war...ein strenger Mann", gab er leise zu und lehnte sich zu mir runter, bevor er einen sanften Kuss auf meine Wange platzierte.
„Aber trotzdem, hatte er ein gutes Herz und behandelte mich gut."

„Er wäre wirklich stolz auf dich", sprach ich leise und schaute zu wie seine Augen langsam anfingen rot zu werden. Wie auf Knopfdruck fing mein Herz an zu sinken.

„Vertrau mir Emilia. Das wäre er nicht", flüsterte er und schluckte schwer auf.

„Silvan", warnte ich ihn und hasste es wie meine Stimme brach. Mit mehr Mut als ich von mir erwartete, griff ich an beiden seiner Wangen und kam seinem Gesicht näher. „Du bist so gut. Ich flehe dich an. Hör auf zu sagen, du wärst es nicht."

„Ich habe eklige Sachen getan", seine Stimme klang so anders. Es war nicht die, die ich hörte, als ich das erste mal auf ihn traf. Sie klang so, als hätte er Schmerzen. Als bekäme er keine Luft mehr.

Ich konnte sehen, wie eine kleine Träne aus seinem Augenwinkel fiel. Er wollte sich von mir lösen und war gerade dabei sich diese wegzuwischen, wären da nicht meine Hände, die nach seinen Griffen, um ihn aufzuhalten. Sanft wich ich ihm die kleine Träne weg und lehnte mich vor, bevor ich genau an dieser Stelle einen Kuss platzierte. „Hör auf dich vor mir verstecken, Silvan", flüsterte ich und legte meine Stirn auf seiner ab. „Du darfst fühlen."

Sein zittriges Seufzen prallte auf meinen Lippen ab und ich legte vorsichtig meine Arme um seinen Hals bevor ich ihn näher zog. Sein Kopf fiel in meine Halsgrube und ich versteckte mein Gesicht in seinen Haaren.

„Es ist okey. Ruh dich aus, Silvan", flüsterte ich. „Wir haben Zeit."

Und er blieb genau da wo er war.

𝐒𝐢𝐥𝐯𝐚𝐧 ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt