Kapitel 2

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Das stete Ruckeln des Zuges und die abfallende Anspannung des Tages ließen mich schließlich einschlafen, bis mich jemand unsanft an der Schulter rüttelte. Alarmiert fuhr ich aus meinem Sitz auf und packte den Sprecher am Kragen. Ich hatte fest damit gerechnet, einen der Häscher aus meiner Familie oder aus Zeros zu sehen. Aber Fehlanzeige. Ich blickte direkt in die braunen Augen eines jungen Mädchens, ihr Seelenlied verriet ihren Zorn. „Sag mal tickst du nicht richtig?" plärrte sie und löste sich aus meinem Griff. „Du sitzt auf meinem Platz, du Landpomeranze!" fauchte sie und deutete anklagend auf mich, ehe sie mir ihr Ticket unter die Nase hielt. Ein Blick aus dem Fenster und auf die Anzeigetafel und ich wusste Bescheid. „Wie bitte? Landpomeranze? Das sagt ja genau die Richtige! Du bist doch selbst vom Land!" das Mädchen verschränkte die Arme vor der Brust. „Und woher willst du das wissen?" Ich deutete auf die Anzeigetafel hinter ihr. „Tokyo ist noch ziemlich weit weg dafür, dass du nicht vom Land kommen willst."

Als sie sich der Anzeigetafel zuwand, strich ich flüchtig über ihre Hand, um ihren Lebensfaden aus ihr herauszuholen. Schnell ließ ich ihn durch meine Finger gleiten, um mehr über sie zu erfahren. Ich weiß, ich weiß. Das ist schrecklich aufdringlich und zudem unverschämt, so im Leben anderer zu blättern. Aber was sollte ich tun? Ich war auf der Flucht, also musste ich alle Register ziehen. Der Zweck heiligt ja bekanntermaßen die Mittel. Und siehe da, falsch war es nicht. Das Mädchen war Jujuzistin. Sofort zog ich meine Fluchkraft in meinen eigenen Seelenfaden zurück. So war meine Fluchkraft quasi nicht mehr wahrnehmbar und ich somit nicht als Jujuzistin erkennbar. „Ziemlich scharfsinnig." Nobara, so hieß das Mädchen anscheinend, drehte sich wieder zu mir um. Ich zuckte bloß mit den Schultern und ließ ihren Lebensfaden sich um meinen Arm wickeln. Natürlich hätte ich ihn zurück in ihren Körper schicken können. Aber ich wollte auf Nummer sicher gehen. Man weiß ja nie. „Zeig mal dein Ticket." Sie nahm es mir aus der Hand. „Da, siehst du? Du sitzt mir gegenüber." Kurzerhand wuchtete sie meine Tasche auf die Bank ihr gegenüber und ließ sich dann auf meinem Platz nieder. Na, sollte mir recht sein. Ich setzte mich ihr gegenüber. Ihr Seelenlied beruhigte sich langsam, der Zorn darin wich Neugier.

„Ich bin Kira." Kam ich der sich anbahnenden Frage zuvor. Nobara nickte. „Ich bin Nobara." „Was willst du in Tokyo, Nobara?" sie deutete auf ihre dunkle Uniform. „Ich gehe dort auf eine neue Schule." Sicher eine Schule für Jujuzisten. Ich hatte davon gehört, aber nie selbst eine besucht. Alles, was ich konnte, konnte ich dank Zero. Er war wohl auf einer Akademie gewesen, in Kyoto. „Und du, Kira?" ich beschloss, Nobara nicht länger als Geißel zu halten und schickte ihren Faden zurück in ihren Körper. „Ich wollte schon immer in die Großstadt. Das Landleben war nie meins." Ich gab mir Mühe, so ausweichend wie möglich zu antworten. Nobara schien mit der Antwort zufrieden zu sein. „So geht es mir auch." Sie fummelte an ihren Nägeln herum und sah aus dem Fenster. „Das Landleben war nie für mich bestimmt." Sie und ich schienen mehr gemeinsam zu haben als gedacht. „Warst du denn schon mal in Tokyo?" fragte sie jetzt. Fast schon peinlich berührt schüttelte ich den Kopf. Verdammt, ich war 23 Jahre alt und noch nie der Hauptstadt gewesen.

Nobara zückte einen Zettel und reichte ihn mir, nachdem sie mit Schreiben fertig war. „Solltest du wen brauchen, der so wie du neu in Tokyo anfängt, ruf mich gern an." Sie lächelte etwas. „Wir Landpomeranzen müssen doch zusammenhalten, nicht wahr?" lachend nahm ich ihr den Zettel ab und verstaute ihn in meinem Rucksack. „Das ist wohl wahr." Wir unterhielten uns lange, so lange, dass die restlichen Fahrtstunden wie im Flug zu vergehen schienen. Ich mochte Nobara, sie war vielleicht etwas ruppig, aber sie hatte ein gutes Herz, das klar aus ihrem Seelenlied herauszuhören war.

Als der Zug in Tokyo einfuhr, half ich Nobara dabei, ihre Koffer aus den Fächern über unseren Köpfen zu hieven, nur um ihr danach nervös zum Ausstieg zu folgen. Auch wenn ich wusste, dass es unmöglich war, dass meine Familie schon am Bahnsteig stand, um mich abzuholen, blieb dennoch diese Angst, die ich nicht abschütteln konnte. Ich hoffte inständig, dass sie mich nicht für den Rest meines Lebens verfolgen würde. „Es war schön mit dir, Kira." Nobara betätigte den Knopf, langsam öffneten sich die Türen in mein neues Leben. „Ruf mich gern an, wenn du mal mit wem quatschen willst." Ich schaffte es nicht, etwas zu erwähnen. Kaum, dass die Türen offen waren, wurden meine Ohren mit dem Klang tausender und abertausender Seelenlieder geflutet. Schützend presste ich mir die Hände auf die Ohren und wankte einige Schritte zurück, ehe ich es schaffte, die Seelenlieder auszuschalten. Langsam nahm ich die Hände von den Ohren. Stimmengewirr und die Geräusche der Züge waren alles, was ich noch hörte. „Überwältigend, was?" Nobara grinste und stieg dann aus. „Meld dich gern, Kira!" rief sie und lief dann auf ihr Empfangskomitee zu, dass aus zwei Jungen in ihrem Alter und einem großgewachsenen weißhaarigen Mann mit Augenbinde bestand. So eine Augenbinde war sicher nicht verkehrt. Wahrscheinlich würde ich mich auch besser fühlen, all die Menschenmassen hier nicht sehen zu müssen. Ich lief weiter, drehte mich auch nicht um, als ich spürte, dass sich ein brennender Blick in meinen Rücken bohrte.

Etwas unbeholfen kämpfte ich mich zu den Ausgängen des Bahnhofes vor. Ich kam mir vor, als wäre ich in einen emsigen Haufen Ameisen gestolpert. So viele Menschen auf einem Haufen hatte ich wirklich noch nie gesehen und dementsprechend klein und eingeschüchtert fühlte ich mich auch. Ich sah zu, so viel Abstand wie nur möglich zwischen mich und den Hauptbahnhof zu bringen, Hauptsache weg von den Menschenmassen. Als ich sicher eine Stunde durch Tokyo geirrt war, fand ich schließlich einen kleinen Park, in dem ich mich auf einer Bank niederließ und mein Handy zückte. Ich musste einen Schlachtplan entwerfen, um in Tokyo Fuß zu fassen. Mein Erspartes würde für drei Tage Hotel reichen, wenn ich eines in der untersten Kategorie nahm in einer offensichtlich zwielichtigen Umgebung. Das wurde mir auch erst bewusst, als ich vor dem ranzigen Gebäude mit dem flackernden Neonschild stand. Kopf hoch, Kira. Drei Tage. Das ist mehr als genug Zeit, um dir einen Job zu suchen. Und dann wirst du dir eine Wohnung anmieten, sie nett dekorieren und schwuppsdiewupps hat dein schickes neues Leben in Tokyo begonnen.

Motiviert durch meinen eigenen Pep Talk öffnete ich beschwingt die Türe, nur um von dicken Zigarrenqualm und dem Geruch von Mottenkugeln begrüßt zu werden. Die Wände des Empfanges waren früher sicher einmal weiß gewesen, bevor der Zigarettenqualm samt dem Portier eingezogen war, der qualmend hinter dem Tresen saß und mich aus müden Augen ansah. Rein optisch passte er hier rein, genau wie das Hotel wirkte er alt, ausgelaugt und schien sich mit seiner Situation abgefunden zu haben. „Eine Person?" fragte er, was mich dazu veranlasste, mich umzusehen. Nein, sonst war niemand hier. „Ja, genau." Ich trat an den Tresen. „Drei Tage." Wie gesagt, länger konnte ich mir nicht leisten. Der Mann nickte und wand sich um, um mir einen Zimmerschlüssel zu reichen. Er musste neben Raucher auch starker Alkoholiker sein, dafür sprach zumindest die durch Leberversagen gelb verfärbte Haut auf der kreisrunden kahlen Stelle an seinem Hinterkopf. „Zimmer 245. Ich wünsche einen frohen Aufenthalt." Ratterte er monoton seinen Text herunter, nachdem ich für drei Tage bezahlt hatte und den Schlüssel entgegennahm.

Mit jedem Schritt auf dem morschen Boden hatte ich Angst, gleich im Geschoss unter mir zu landen, doch ich hatte Glück und der Boden brachte mich sicher zu meinem Zimmer. Wie gut, dass ich keine großen Ansprüche gehabt hatte. Das Zimmer war so ranzig wie der Rest des Hauses. Aber ich nahm mir vor, das Beste aus der Situation zu machen. Und der erste Schritt war ausführliches Lüften. Nicht, dass das eine Verbesserung geworden war. Jetzt roch es zwar nicht mehr nach Rauch und Mottenkugeln, dafür aber nach Abgasen und Essen.

Dennoch war ich dankbar. Ich war erfolgreich geflohen und startete durch in mein neues Leben. Ab hier konnte nichts mehr schief gehen.

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Eure Erin ist zurück!

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Eure Erin xx

Strings of Fate (Satoru Gojo X MC)/FanFictionWo Geschichten leben. Entdecke jetzt