Am nächsten Morgen arbeitete ich mich Zentimeter für Zentimeter aus Satorus Armen, um ihn nicht zu wecken. Mir war klar, dass er mich sonst nur hätte begleiten wollen. Und das wollte ich nicht. Nicht, weil ich seine Gegenwart nicht genoss, sondern weil das eine Aufgabe war, um die mich kümmern musste. Allein. Die gerade aufgehende Sonne ließ sein Haar leuchten, er sah fast aus wie ein Engel. Ich hauchte ihm einen Kuss auf die Wange und schlich dann aus dem Schlafzimmer, immer darauf bedacht, die quietschende Türe nur anzulehnen. Ich hatte sowieso kaum schlafen können in dieser Nacht, also konnte ich auch genauso gut meinem Plan nachkommen, bevor ich Satoru zur Akademie begleiten würde. Mir war nämlich letzte Nacht etwas klar geworden. Ich hatte die besten Chancen, die Diebe der Finger Sukunas und damit Megumis Angreifer zu finden. Ich hatte ihre Seelenlieder gehört und nachdem jedes davon einzigartig ist, waren sie wie ein melodischer Fingerabdruck. Nicht zu verwechseln, nicht zu überhören.
Entschlossenheit rauschte durch meine Venen, als ich aus der Fensterfront des Aufzuges direkt auf die aufgehende Sonne blickte, die den Himmel vor mir in ein Meer aus Feuer verwandelte, ein breites Grinsen zog sich über mein Gesicht. Die Diebe, sie bräuchten jeden Tag aufs Neue Glück, um nicht von mir aufgespürt zu werden. Jeden verdammten Tag aufs Neue. Aber ich? Oh, ich brauchte dieses Glück nur ein einziges Mal. Nur einmal musste ich Glück haben. Wie ein Bluthund, der nur die richtige Fährte finden musste. Und wenn ich dafür ganz Tokyo auf den Kopf stellen, jeden Stein der Stadt umdrehen musste, dann würde ich es tun. Für Megumi und dafür, dass sie nicht an weitere Finger kamen. Machen wir uns nichts vor, was ihr Ziel war, war klar. Sie sammelten die Finger des Fluchkönigs sicher nicht, um sie danach, alle 20 an der Zahl, hübsch in einer Vitrine auszustellen.
Als ich den Aufzug verließ und die eisige Kälte sofort ihre Finger nach mir ausstreckte, machte ich mich auf den Weg in die Stadt. Etwas schwach fühlte ich mich zwar noch, aber schon wesentlich besser als gestern. Ein wirkliches Ziel hatte ich nicht, immerhin wusste ich nicht, wo sich die Diebe aufhielten. Kurz spielte ich mit dem Gedanken, zurück zum Friedhof zu gehen, aber nachdem die Diebe den Finger jetzt hatten, bezweifelte ich, dass sie einen Grund hatten, sich erneut dort herumzutreiben. Also lief ich ziellos durch die Straßen Tokyos, ließ die Seelenlieder tausender und abertausender Menschen durch meine Ohren fließen, filterte und trennte sie, bis mir schwindelig wurde. Das war der Nachteil einer Weltmetropole. Die schläft nie. Einmal dachte ich, etwas gehört zu haben, war der Melodie hektisch gefolgt. Doch das Lied hatte zu einem kleinen Mädchen gehört, dass mich verängstigt ansah und dann davonlief. Es war dem Lied der Frau ähnlich gewesen, aber es war nicht das Gleiche. In dem Moment verfluchte ich es, dass Lieder innerhalb von Familien nicht zumindest ähnlich klangen. Dann wäre es leichter gewesen. Aber so gnädig war das Universum nicht mit mir gewesen.
Nach etwa drei Stunden, es war jetzt kurz nach halb 9 am Morgen, beschloss ich, zurückzugehen und gleich Frühstück mitzubringen. Immerhin war ich noch angeschlagen und wollte es nicht übertreiben. Und so würde wenigstens Satoru einen schönen Morgen haben. Also stiefelte ich zum nächsten Bäcker und lief kurz darauf zurück in Richtung Apartmentkomplex. Als ich einige Bürogebäude passierte, die sich links und rechts von mir in die Höhe schraubten, hielt ich plötzlich inne. Die großen Panoramascheiben der Gebäude links und rechts von mir waren verspiegelt, sodass ich nicht in die Gebäude sehen, sondern wenn nur mich sehen konnte. Und genau das war es, was mir eine Gänsehaut bescherte. Langsam wand ich den Kopf nach links, blickte über die kleine Straße in die verspiegelte Scheibe des Gebäudes gegenüber. Doch mein Spiegelbild war verschwunden. Dort, an der Stelle wo ich mich hätte sehen müssen, stand der junge Mann mit dem blutigen Loch in der Brust. Ich kniff die Augen zusammen und machte einige Schritte nach vorn, der junge Mann tat es mir fehlerfrei gleich. Ich legte probehalber den Kopf schief, auch dass machte er mir nach, er hob die Hand, als ich meine hob. All diese Bewegungen machte er synchron mit meinen. Man hätte meinen können, er wäre mein neues Spiegelbild.
Kopfschüttelnd machten er und ich einen Schritt zurück, ich machte einige eilige Schritte nach vorn, genau wie er. Im Augenwinkel sah ich blondes Haar blitzen und wich erschrocken einige Schritte zurück, als ich jetzt in die verspiegelte Scheibe zu meiner Rechten sah. Mit exakt demselben erschrockenen Blick sah mich die blonde junge Frau mit dem abgerissenen Kopf an, ihr Gesicht entspannte sich wieder, bekam denselben prüfenden Ausdruck in den grünen Augen wie ich. Langsam ging sie einige Schritte nach vorn, exakt so wie ich und hob wie ich die Hand. Zitternd berührte ich die Scheibe, unsere Finger lagen aufeinander und doch berührten wir uns nicht. Sie war, genau wie der junge Mann, an die Stelle meines Spiegelbildes getreten. „Was wollt ihr von mir?" schrie ich die junge Frau an, so, wie sie mich anzuschreien schien, sie schlug wie ich wütend mit der flachen Hand gegen die Scheibe. „Lasst mich verdammt nochmal in Ruhe! Ich will mit euch nichts mehr zu tun haben!" die blonde Frau raufte sich genauso verzweifelt wie ich die Haare, ich drehte mich um 180 Grad und sah, dass der junge Mann jetzt genauso verzweifelt aussah, wie ich es tat, sich wie ich bückte und zähneknirschend einen Stein in der Hand hielt.
„Verschwindet endlich!" mit aller Kraft holte ich aus und warf den Stein gegen die Scheibe, auf die junge Frau zu, die den Stein exakt dann losließ, als ich es tat. Es knackte, ein großer Riss zog sich über das Glas. „Sag mal bist du wahnsinnig?" bellte jemand neben mir und zog mich grob an der Schulter von der beschädigten Scheibe weg. „Du kannst doch hier nicht herumbrüllen und Scheiben einschmeißen!" ein kleiner untersetzter Mann stand neben mir in der kleinen Seitenstraße und sah mich entgeistert an. „Ich werde die Polizei rufen, Mädchen. Das geht so nicht." Er fummelte sein Handy aus der Jackentasche, hektisch sah ich mich um. Außer uns war niemand in der kleinen Straße. Also rannte ich los, auf beiden Seiten der Straße, in den Scheiben, flankiert von den beiden Geistern, die wie ich eine Bäckertüte in der Hand hielten und sich bemüht unauffällig die Tränen der Verzweiflung und der Wut aus dem Gesicht wischten. „Hey, Mädel! Bleib stehen!" ich konnte hören, dass der Mann die Verfolgung aufnahm, sie aber nach ein paar Metern wieder aufgab und mir wütend hinterherbrüllte.
Doch ich war viel zu aufgelöst, um auf ihn zu reagieren oder gar auf die Polizei zu warten. Das hätte mir nur noch mehr Schwierigkeiten eingebracht und die konnte ich gerade echt nicht gebrauchen. Immer weiter rannte ich, bis ich die Gebäude und damit die verspiegelten Glasfronten endlich hinter mir gelassen hatte und damit auch die Geister verschwunden waren. Kaum, dass ich um die Kurve gebogen war, rannte ich frontal in jemanden hinein und das mit so einer Wucht, dass es uns beide von den Füßen riss. „Es tut mir so leid." Ich rappelte mich auf und begann parallel mit meiner Entschuldigung. „Schon gut, Kira." Der Arme Idiot, der meinen Sturz abgefedert hatte, war niemand anderes als Yuji. Sofort reichte ich ihm die Hand und half ihm auf die Füße. „Das tut mir so leid, Yuji. Ich hätte besser aufpassen müssen." Doch der Junge schüttelte den Kopf. „Ist gut. Alles noch dran." Er zeigte mir seine aufgekratzten Hände. Solltest du nicht bei Herrn Gojo sein?" ich hob die Tüte auf, die wie durch ein Wunder ganz geblieben war. „Ich wollte Frühstück holen." Yuji musterte mich von oben bis unten. „Und das tut man in deinem Dorf verweint?" er zog ein Taschentuch aus seiner Hosentasche und reichte es mir.
Schnell angelte ich ihm eines der Gebäckstücke aus der Tüte. „Puddingschnecke als Wiedergutmachung?" fragte ich, was dem Jungen ein breites Lächeln ins Gesicht zauberte. „Immer doch!" kauend lief er neben mir her, bis wir kurz darauf auf Nobara trafen, die wohl mit Yuji unterwegs gewesen war. „Wie geht es Megumi?" fragte ich das Mädchen. „Wach ist er immer noch nicht, aber er sieht besser aus." Yuji nickte. „Als würde er schlafen." Schmatzte er und leckte sich den Rest der Puddingschnecke von den Fingern. „Wenn du mal quatschen willst, sag Bescheid." Sagte er zum Abschied und stieg dann mit Nobara zu Ijichi ins Auto. Der bot mir zwar an, mich zu Satorus Wohnung zu fahren, doch ich schlug es aus. Die fünf Minuten würde ich, sofern es keine Fensterfronten mehr gab, sicher unfallfrei hinter mich bringen können.
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Eure Erin ist zurück :D
Wie immer und immer, ich hoffe es hat euch gefallen!
Die Spannung steigt, wer sind bloß diese Geister und was wollen sie von Kira?
Bleibt dran, wenn ihr es rausfinden wollt!
Eure Erin xx
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Strings of Fate (Satoru Gojo X MC)/FanFiction
Fanfiction18+ Die 23-jährige Kira wollte ihr Leben lang nichts, außer frei zu sein. Und auch, wenn ihr keine physischen Fesseln angelegt sind, wiegen die geistigen Fesseln wesentlich schwerer und drohen, sie mit sich in die Verdammnis zu ziehen. Doch als si...