24 - Türme, Großes Gedächtnis

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In der Nacht wandelten viele der hohen Damen im Schlaf durch die Gänge des Heiligtums. Als die Religion noch jung gewesen war, hatte man die ersten Prophetinnen an ihre Betten gefesselt, um sie davon abzuhalten, des nachts herum zu streifen. Diese Zeiten waren lange vorbei, aber nach wie vor patroullierten Nachtwachen und manche Türen blieben verschlossen, solange es dunkel war. Die Gittertür zum Treppenhaus beispielsweise. Maya zog den passenden Schlüssel aus der Tasche und huschte hindurch. Sie hatte ihn heute der ältesten Hüterin gestohlen und wäre dabei beinahe erwischt worden. Der Schlüssel hatte auf ihrem Tisch gelegen und Maya war beinahe gestorben vor Anspannung, als sie ihn beiläufig in ihre Tasche gleiten ließ. Dabei war die Hüterin eine sehr alte Frau und beinahe blind. Nichts lag ihr ferner, als irgendjemandem etwas zu leide zu tun. Vorausgesetzt, man hielt sich an das Protokoll.

Der Schlüssel schien eine Tonne zu wiegen in Mayas Rocktasche, während sie den Nachtwachen auswich. Sie stieg heute nicht nach oben zu den Plattformen, von denen aus die Leserinnen den Nachthimmel nach der Zukunft befragten. Ihr Weg führte sie lange gewundene Wendeltreppen hinunter, bis die Wände des Turms zu Fels wurden und die kunstvollen Leuchter zu Fackeln. Man wanderte durch Dunkelheit, bis man das Gefühl hatte, den Turm lange verlassen zu haben und von Lichtsprenkeln empfangen wurde.

Das Gewölbe unter dem Heiligtum barg tausende von Erinnerungen. Die Wände waren gesäumt von kleinen Metallhaltern, die jeweils einen schmalen Kristall enthielten. Sie waren nicht nummeriert oder sonst auf irgendeine Weise systematisiert. Zumindest musste das auf ein ungeübtes Auge so wirken. Doch Maya hatte hier unten den ersten Teil ihrer Ausbildung absolviert. Dank ihres fotografischen Gedächtnisses kannte sie die Formen der Steine an den Wänden beinahe auswendig. Sie wäre am liebsten umgekehrt, doch sie zwang sich Schritt für Schritt weiter in die Dunkelheit.

Erinnerung zu bewahren war die älteste Aufgabe des Ordens. Das Gedächtnis war älter als die Stadt selbst. Es schraubte sich unterirdisch in die Tiefe und nur manche Teile waren katalogisiert. Die Erinnerungen von Königen und Bettlern. Von Generationen an Menschen, die auf diesem Planeten gelebt hatten. Leben, die man eingefangen hatte, kurz bevor sie erloschen.

Diese Kristalle waren heilig. Bei Totensammlungen legte der Orden sie den Sterbenden auf und fügte ihre Erinnerungen dem großen Gedächtnis hinzu. Es war etwas endgültiges, seine Erinnerung abzugeben. Was der Stein sich nahm, gab er nicht wieder zurück. Als man begonnen hatte, die heiligen Steine zu erforschen, hatte man für einen kurzen Zeitraum gedacht, man könne selektiv Traumata aus dem Gedächtnis löschen. Doch so funktionierte diese Speichertechnologie nicht, die so hoch entwickelt war, dass sie wie Magie wirkte. Maya glaubte mit ganzem Herzen an die Sterne. Sie glaubte an die silbernen Götter, die über sie wachten. An Magie glaubte sie nicht, dafür aber daran, dass kein Mensch je ergründen würde, wie die Sterne ihnen allen den Weg deuteten.

Die Erinnerung, die der Kronprinz wollte, gehörte einem Geist. Maya wollte nicht wissen, wieso. Wahrscheinlich hatte irgendjemand etwas gesehen, was er nicht sollte und er wollte den Beweis verschwinden lassen. Doch die Mühe hätte er sich sparen können, denn Geistererinnerungen wurden in die Tiefe geworfen. Sie lagerten verstreut über mehrere Stockwerke. Vor Jahren war hier Wasser eingebrochen und seitdem hatte niemand es für nötig gehalten, aufzuräumen. Die geweihten Kristalle schimmerten am Boden des Raums, moosbewachsen und unsortiert.

Maya stieg eine gewundene Metalltreppe hinunter zu den schillernden Kristallen. Sie hatte den Quadranten isoliert, in dem das betreffende Jahr lagerte. Der Monat. Doch genauer würde sie nicht herankommen bei den Geistererinnerungen, die der Orden nur der Vollständigkeit halber aufbewahrte. Es gab regelmäßig Diskussionen darüber, ob man Geister ins große Gedächtnis aufnehmen sollte und in den letzten Jahren waren die Gegenstimmen lauter geworden. Wieso wusste Maya nicht genau.

Sie sah eine junge Erinnerung in der Mitte des Raums. Noch Blutrot, als enthielte sie tatsächlich Blut oder irgendetwas wahrhaft körperliches. In den nächsten Monaten würde sie genauso milchweiß werden wie all die anderen. Maya fragte sich, ob es die Erinnerung des Assassinen war, dessen Hinrichtung Orden und König von Neuem aufeinander gehetzt hatte. Der Kronprinz hatte gesagt, es wären seine Leute gewesen, die die Hohe aus dem Palast gelockt hatten, damit sie eine Salbung vornahm. Ob das hieß, dass sie es gewesen waren, die die Bekannte der Hohen umgebracht hatten? Der Gedanke suchte sie heim, seit sie mit dem Prinzen gesprochen hatte. Es zerriss Maya, dass sie nicht mit der Hohen darüber sprechen konnte, was der junge Adel tat. Denn wenn sie das tat, war ihre Karriere und vermutlich auch ihr Leben vorbei. Sie hatte Unrecht getan. Das hier war ihre Bürde.

Sie watete durch die Erinnerungen. Sie waren nicht scharf, aber sie drückten sich durch die Sohlen ihrer Ballerinas. Sie hätte nicht in ihren Reitstiefeln durch den Turm gehen können, ohne Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Wenn sie erwischt worden wäre, wäre offensichtlich gewesen, dass etwas nicht stimmte.
Es fühlte sich wie ein Sakrileg an, über die Steine zu laufen. Zwar gab es Stege aus Holz, doch früher oder später musste man diese Verlassen, um die Erinnerung zu erreichen, die man suchte. Im Schein ihrer Fackel und den Lichtsprenkeln, die die Kristalle warfen, suchte Maya in der Stille des großen Gedächtnisses.

Der Kronprinz hatte ihr einen Tag genannt und Maya spannte Stein um Stein in das Lesegerät ein, um sich das Datum ausspielen zu lassen, zu dem die Erinnerung geboren worden war. Es war anstrengend und nach einer Weile schmerzten ihre Hände. Außerdem fror sie trotz ihrer Jacke. Sie sah auf die Uhr und wurde noch unruhiger. Lange hatte sie nicht mehr Zeit, wenn sie die Wachablöse nutzen wollte, um sich wieder nach oben zu schleichen.

Kopfschüttelnd sah sie die Menge an Steinen an. Es war einem nie klar, wie viele Menschen starben, bis man über ihren Erinnerungen stand. Jeder Stein war ein vergangenes Leben und Maya legte sie wieder zurück, als wären sie wertlos. Sie legte den Leser zur Seite und schloss frustriert die Augen. Die Shilouetten der Kristalle, die sich scheinbar bis zum Horizont erstreckten, hatten sich in ihre Augen eingebrannt. Was tat sie hier überhaupt? Als sie das letzte Mal hier gewesen war, um ... Sie hätte weinen können bei dem Gedanken.

Sie war nicht genau hier gewesen, sie war in dem Teil der Gewölbe gewesen, in dem die Erinnerungen des Ordens lagen. Es war genauso illegal wie ohne das Einverständnis der Hohen oder ein entsprechendes Amt hier zu sein. Maya kauerte sich auf dem Steg inmitten der Erinnerungen zusammen und brach in Tränen aus. All der Stress der letzten Wochen brach über sie herein.

Irgendwann piepste ihre Uhr und riss sie aus ihrem Weinkrampf. Sie musste gehen, oder sie würde es nicht mehr hinausschaffen. Lustlos griff sie nach einem Kristall, der auf dem Steg gelandet war bei ihrer Suchaktion. Sie wollte ihn schon zurückwerfen, doch zum Glück schob sie ihn in das Lesegerät. Ihre Hand krampfte um das Metall des Griffs, als das Ergebnis ausgespuckt wurde.
Es war das Datum, das der Prinz ihr genannt hatte, das ihr vom Display entgegenleuchtete.

So vorsichtig sie konnte, nahm sie die Erinnerung heraus und schlug sie in ein Brillenputztuch ein, das sie in der Tasche hatte. Maya stand auf, nahm ihre Fackel mit und ließ die restlichen funkelnden Kristalle in der Dunkelheit zurück. Kein Wunder, dass sie so aufgelöst war, dieser Ort musste etwas in jedem Menschen auslösen. Der Beweis der eigenen Endlichkeit lag funkelnd wie frisch gefallener Schnee überall um sie herum.

Als Maya wieder in ihrem Zimmer war, atmete sie lange aus. Jetzt musste sie nur noch ihre schmutzigen Kleider loswerden, bevor jemand sie fragte, wo sie gewesen war. Vielleicht noch ein heißer Tee mit Honig vor dem Schlafengehen, den hätte ihre Mutter ihr nach einem anstrengenden Tag gemacht. Durch die Wand hörte sie ihren Bruder schnarchen. Man hatte ihn hier platziert, weil man dachte, man täte ihr einen Gefallen. Dabei fühlte sie sich hauptsächlich eingeengt. Vor allem heute Nacht. Maya zog die Erinnerung aus der Tasche und breitete den Stoff vorsichtig auseinander. Sie achtete darauf, dass selbst wenn jemand hereinkommen würde, ihr Rücken die Sicht auf das versperren würde, was sie in der Hand hielt. Sie fuhr mit der Fingerkuppe am Rand des Kristalls entlang und runzelte die Stirn. Er war gesplittert.

Skythief - Gefallene Sterne [2024 Version]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt