Kapitel 32

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Obwohl vier Menschen mehr als gewöhnlich in meinem Apartment waren, war es am Tisch stiller als je zuvor. Keiner traute sich ein Wort zu sagen, denn vermutlich hatten die anderen die gleiche Angst wie ich - die Situation durch falsche Worte noch schlimmer zu machen, als sie  schon war. Was sollte man auch schon sagen? Hey Mum, du weißt schon noch, dass Dad dich für eine Jüngere verlassen hat, oder? Und Dad, du hast nicht vergessen, dass du Scheidung damals eingereicht hattest, oder?
Auch wenn ich nicht verstehen konnte, wieso meine Mutter nach all den Jahren zu ihm zurück gekehrt war, war ich nicht im geringsten in der Position, darüber zu urteilen. Ich sollte mich eher für die beiden freuen, denn anscheinend waren sie wohl für einander bestimmt oder so, sonst hätte das Schicksal sie nicht wieder zusammengeführt. Oder?

"Also", begann meine Mutter seufzend und legte ihre Gabel bei Seite. "Vermutlich sind Scott und ich euch eine Erklärung schuldig."
"Ach nein", gab Austin sarkastisch zurück, weswegen Helen ihre Hand auf seine legte. Es schien ernster zwischen den beiden zu sein, als ich anfangs gedacht hatte. "Tun wir einfach weiter so, als hätte Dad dich nicht für jemanden verlassen, der ungefähr so alt wie Taylor war. Am besten lassen wir die Scheidung auch außer acht, und die Tatsache, dass ihr beide mit mehr Leuten was hattet, als ich kenne."
"Austin", meldete sich seine Freundin leise, aber mahnend, und drückte seine Hand ein wenig.
"Schon gut. Das haben wir verdient", mischte sich meine Mutter ein und räusperte sich kurz. "Ich hätte euch sagen sollen, dass der Mann an meiner Seite euer Vater ist."
"Es ist einfach passiert", erklärte mein Vater weiter. "Nachdem ich von dem, was Rick getan hatte, erfahren hatte, dachte ich, ich sollte mich bei eurer Mutter melden und mich nach ihr erkundigen. Immerhin war viel Zeit vergangen und sie bedeutete mir noch immer sehr viel. Wir hatten ja nicht grundlos geheiratet."
"Ich habe ihn lange Zeit abgewiesen, doch irgendwann schaffte er es, dass ich ihm verzieh", führte meine Mutter fort. "Und je mehr Zeit wir mit einander verbrachten, desto mehr Erinnerungen an gute Zeiten kamen auf. Naja, und hier sind wir jetzt."
"Wie rührend", gab Austin in einem nicht weniger ironischen Ton als zuvor zurück. "Tay, sag doch auch etwas."
"Das kann ich nicht", antwortete ich schulterzuckend und sah von meinem Teller auf. Während der Erzählung meiner Eltern hatte ich keinen der Anwesenden ansehen können, da ich in ihr mich selbst wieder erkannte - mich und Harry.
"Seht ihr? Eure Tochter ist sprachlos", murmelte Austin und deutete mit seiner Hand auf mich.
"Weil sie selbst betrogen wurde und weiß, wie sich das anfühlt", antwortete meine Mutter, so als könnte sie so etwas einfach so zu Tisch bringen. "Und glaub mir, ich bin froh, dass sie in Adam gefunden hat, was ich in eurem Vater gefunden habe. Wir brauchten eben ein wenig länger, um das zu verstehen."
"Ich bin nicht mit Adam zusammen", warf ich etwas genervt ein. Ich hatte ihr es  gestern doch deutlich erklärt, oder?
"Sie ist aber nicht zu dem Arschloch zurück", erwiderte mein Bruder und lehnte sich gegen seine Stuhllehne. Noch nie in meinem Leben hatte ich ihn so entsetzt über etwas gesehen.
"Eigentlich-", begann ich und lenkte so die Aufmerksamkeit des Tisches auf mich. Verdammt, nun gab es keinen Ausweg meh, und so wie Austin drauf war, würde mein Geständnis auch nicht gut enden. "Sind Harry und ich seit zwei Wochen wieder ein Paar. Es tut mir leid, aber ich möchte nicht, dass ihr über diese Entscheidung urteilt, denn ich weiß, wie wir zu einander stehen und ich denke, er hat diese Chance verdient. Deswegen kann ich auch nichts zu dem mit Mum und Dad sagen, weil ich finde, dass ich nicht urteilen sollte, wenn ich selbst in einer ähnlichen Situation bin."
"Taylor, das ist ja-", flüsterte meine Mutter geschockt. "Überraschend."
"Austin, bitte raste nicht aus deswegen", bat ich. Seine Meinung war mir wichtiger als die meiner Eltern, und ich hatte wirklich Angst davor, dass sie schlecht ausfallen könnte.
"Werde ich nicht", zischte er und atmete laut aus. "Dafür werden Helen und ich jetzt gehen."
"Bitte, Austin, bleib hier", flehte ich weiter und stand mit ihm auf, um ihm in den Flur zu folgen. Obwohl Helen etwas verwirrt war, folgte sie uns ebenso.
"Ich muss hier raus, Tay", erklärte Austin und sah mich mit wilden Augen an. Er war wütend, ja, aber ich wollte ihn nicht gehen lassen. Vielleicht war es egoistisch von mir, denn ich wusste, dass seine Wut nur deswegen so stark war, weil er Angst um mich hatte, doch ich konnte es nicht ertragen, wenn er ging.
"Lass mich mitkommen", schlug ich vor. "Ich kann dir alles erklären. Wenn du dann immernoch über mich urteilen willst, kannst du das, nur lass mich dir deutlich machen, was passiert ist."

Auch Helen war der Meinung, dass Austin und ich uns aussprechen sollten, weswegen ich mit ihm zu einem Spaziergang aufbrach. Austin selbst war zwar nicht ganz überzeugt von dem ganzen, wollte mich aber zumindest anhören, was schon mehr war, als ich verlangen konnte. Wir liefen eine lange Zeit durch Straßen, Gassen und den Central Park, wo wir uns schließlich auf einer Bank niederließen. Mein Bruder sagte kein Wort, doch er hörte gewissenhaft zu, während ich ihm alles erzählte - von den ersten Kontaktversuchen Harrys, über die Aussprache, unsere Freundschaft, die Sache mit Adam, bis hin zu diesem Tag. Ich las ihm sogar aus unseren Chatverläufen vor.
Als ich geendet hatte, striff uns ein kalter Wind, welcher meine Haare ordentlich durcheinander brachte. Mein ganzer Körper zitterte und der Schnee um uns herum glitzerte wie tausend kleine Diamanten, die den leichten Sonnenschein reflektierten. Austin sagte lange nichts und beobachtete, ebenso wie ich, die Natur um uns herum.
"Verdammt", brach er die Stille und atmete scharf ein, als ich mich schon fragte, ob er in Gedanken noch bei mir war.
"Was?", erkundigte ich mich so ruhig wie möglich, hatte aber dennoch Angst vor seiner Reaktion.
"Ich verstehe dich", murmelte er und blickte starr gerade aus. "Du liebst ihn, und zwar nicht so, wie die vor ihm. Er ist besonders."
"Sieht so aus", seufzte ich und zog die Ärmel meines Mantels über meine Finger. Austin hatte Harry noch nie gemocht, noch nicht einmal vor der Trennung, deswegen war ich nicht zuversichtlich, seinen Segen zu bekommen. "Ich kann, seit ich ihn kenne, an keinen anderen mehr denken. Das mit Adam ist das beste Beispiel dafür."
"Und er kann so ziemlich alles tun, früher oder später kannst du nicht anders, als ihm zu verzeihen", führte er meinen Gedankengang weiter und wandte sich mir zu.
"Woher weißt du das?", hakte ich etwas überrascht von der Wahrheit seiner Worte nach.
"War geraten", gab er zu und grinste. "Ich muss mit Helen dauernd solche Schnulzen ansehen, und das, was du da erzählst, hört sich stark nach einer an."
"Wie bitte?", kicherte ich. Ich konnte mir nicht anders helfen, als über seine Aussage zu lachen.
"Es ist die Wahrheit", antwortete er amüsiert und lehnte sich zurück. "Aber weißt du, was ich aus diesen Filmen gelernt habe? Wenn zwei Menschen für einander bestimmt sind, finden sie immer wieder zu einander. Egal, wer was anstellt oder wer wo hingeht."
"Das kann sein", murmelte ich.
"Deswegen stehe ich hinter dir und deiner Entscheidung", sprach er weiter. "Aber ich will nicht schon wieder die Scherben aufsammeln müssen. Wenn du also versprichst, immer im Hinterkopf zu behalten, was er dir angetan hat, und vorsichtiger zu sein, gebe ich euch meinen Segen."
"Das werde ich", versicherte ich ihm lächelnd.
"Und wenn er dir wieder, auch nur ein kleines bisschen, weh tut, werde ich ihn erschlagen", drohte er mit ernstem Gesichtsausdruck. Ich wusste, dass er es nur gut meinte, und dafür war ich ihm dankbar. Noch dankbarer war ich jedoch für sein Verständnis und seinen Segen, denn ohne diesen hätte ich mich nicht wohl gefühlt. Obwohl Austin drei ganze Jahre jünger als ich war, wusste er so vieles, was ich in seinem Alter gern gewusst hätte. Außerdem hatte er ein unheimlich gutes Urteilsvermögen, was ihn in seinem Leben schon weit gebracht hatte - und bei ihm konnte ich mir sicher sein, dass es bei seinem Urteil nur um mein Wohlergehen ging. Ehe er noch weitere, mögliche Kriegserklärungen aussprechen konnte, fiel ich ihm überglücklich um den Hals. Er erwiderte meine Umarmung fest und verstummte sofort, denn er merkte, wie froh ich über seine Worte war. Ich war froh ihn als Bruder zu haben.
"Danke", flüsterte ich und löste mich dann langsam von ihm, um ihm in die Augen sehen zu können. "Ich meine es ernst, danke."
"Wollen wir vielleicht langsam zurück gehen?", erkundigte er sich und deutete in die Richtung, aus der wir gekommen waren. "Ich möchte Helen nicht all zu lange mit unseren Eltern allein lassen."

Natürlich konnte ich ihn dabei verstehen und willigte ein, weswegen wir den Heimweg antraten. Ich hakte mich bei ihm ein und fragte ihn über alles, was ihn und Helen betraf, aus, denn ich wollte zumindest wissen, mit wem mein Bruder sein Leben teilte. Er erzählte mir alles, was ich wissen wollte, und grinste dabei übers ganze Gesicht. So fand ich heraus, dass sie in einer Bäckerei jobbte, um ihr Lehramtsstudium zu finanzieren. Außerdem tanzte sie wohl in ihrer Freizeit gerne im Ballett und liebte klassische Musik, mochte aber auch Country. Sie besaß zwei Katzen und einen Vogel, welche aber bei ihren Eltern in einem kleinen Dorf in Tennessee lebten. Außerdem hatte sie eine große Schwester. Die beiden hatten sich in der Universitätsbibliothek kennengelernt und von da an immer gemeinsam gelernt, teilten ihre Freistunden und Mittagspausen miteinander und fuhren sogar mit dem gleichen Bus zur Schule. Beide waren keine Freunde großer Partys, weswegen sie oft zusammen Filme schauten und ins Kino gingen. Sie waren zwar noch kein festes Paar, Austin war sich aber sicher, dass sie das bald würden. So weit ich das beurteilen konnte, war sie ein guter Mensch, weswegen ich den beiden auch meinen Segen gab. Kurz bevor wir bei mir ankamen, diskutierten wir noch über die Sache mit unseren Eltern. Austin meinte, durch meine Schilderungen irgendwie auch meine Mutter zu verstehen, und wollte ihnen eine Chance geben. Mir ging es genauso, doch ich betrachtete das alles trotz allem noch immer mit einem skeptischen Blick. Es ist eines, wenn der Freund einen betrügt und dann alles tut, um einen zurückzugewinnen, und etwas anderes, wenn der Mann bei der Schlampe bleibt und die Scheidung einreicht. Über Weihnachten wollten wir auf jeden Fall friedlich mit der Situation umgehen.

"Da seid ihr ja!", rief unsere Mutter erleichtert, als wir völlig ausgefroren durch die Wohnungstür traten und uns aus unseren Jacken und Schuhen schälten.
"Schon gut, Mum", seufzten Austin und ich im Chor, weswegen wir zu lachen beginnen mussten. Auch Helen spitzelte um die Ecke und kam auf uns zu, sobald sie merkte, dass die Anspannung von vorhin gewichen war.
"Alles okay?", erkundigte sie sich leise und ließ sich von Austin in den Arm nehmen, welcher fröhlich nickte.
"Alles gut", antwortete er lächelnd. "Ich gebe sowohl Taylor und Harry meinen Segen, als auch meinen Eltern."
"Das freut uns doch", mischte sich unser Vater ein und kam ebenfalls in den Flur, um meine Mutter an der Hand zu nehmen.
"Ach kommt schon", stöhnte ich gespielt genervt. Sofort richteten sich schockierte Blicke auf mich, weswegen ich zu lachen begann. "Mein Freund ist am anderen Ende der Welt, könntet ihr bitte nicht alle auf glückliches Paar machen?"

(A/N: Ihr kennt mein Gerede mittlerweile ja, haha. Wenn es euch gefallen hat, hinterlasst mir doch bitte ein Vote oder einen Kommentar, ansonsten bis zum nächsten Kapitel. Bleibt wundervoll. <3)

all you had to do was stayWhere stories live. Discover now