Kapitel 48

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Natürlich war Harry am nächsten Morgen weder im Bett, noch in der Wohnung zu finden oder auf dem Handy zu erreichen. An diesem Tag störte mich das allerdings noch mehr, als sonst schon, weil ich keine Ahnung hatte, wo wir standen. Hatte er die Entschuldigung ernst gemeint? Konnte ich sie ernst nehmen? Wo hatte er sich herum getrieben? All diese Fragen und noch viele mehr geisterten in meinem Kopf herum, obwohl sich zu keiner davon eine vernünftige Antwort finden ließ. Ich wünschte mir wirklich, wir hätten unsere Differenzen direkt nach dem Streit beseitigt; einmal über alles gesprochen und diesen Mist so aus der Welt geschafft. Doch in einer Beziehung mit einem Mann wie Harry lief erstens nie etwas so, wie man es gerne hätte, und zweitens wurde kaum irgendwelcher Mist aus der Welt geschafft. Er hatte einfach dieses Problem, über seine Gefühle zu sprechen und andere daran teilhaben zu lassen, aber ich war schließlich seine Freundin. Wem sollte er sich anvertrauen können, wenn nicht mir? Ich merkte zwar immer wieder, dass er sich, was das anging, schon ein gutes Stück zum Guten verändert hatte, doch es war trotzdem noch schwer für mich, das irgendwie zu akzeptieren.
Abgesehen davon war es für mich an sich schon schwer, mit ihm zu streiten, vor allem, nachdem ich ihn drei Wochen nicht gesehen hatte.
Alles, was ich eigentlich wollte, war seine Nähe. Er hatte mir so unendlich gefehlt, während ich in Amerika war - selbst an dem Tag, an dem ich mir schon ausgemalt hatte, wie mein Leben ohne ihn wohl aussah. Dennoch hatte ich in der Nacht seine Umarmung nicht erwidern oder seine Hand, die so nah an meinem Gesicht war, küssen können. Mich nervte der Streit und sein Standpunkt so sehr, dass es mich nur noch mehr auf die Palme brachte, mich so sehr nach ihm zu sehnen. Was war das mit uns nur?
Ein lauter Krach riss mich unbarmherzig aus meinen Gedanken und ließ mich meine Make-Up-Routine unterbrechen. Es hatte mich zwar einiges gekostet, nach dem letzten Tag und einer langen, aber wenig erholsamen Nacht, aus dem Bett zu hiefen, aber es half ja nichts. Nach einer Dusche hatte ich mich im Schlafzimmer auf dem Boden vor dem großen Spiegel niedergelassen und begonnen, meine hässlichen Narben abzudecken. Etwas verwundert, da ich nur kurze Zeit zuvor die Wohnung abgegangen war, um zu sehen, ob Harry nicht doch zuhause war, was er nicht war, richtete ich mich auf. Woher kam dieser Lärm? War jemand in der Wohnung? Ein Einbrecher? Oh Gott.  Roger?

Nein, das konnte nicht sein. So verrückt war er nicht; er war nicht so bescheuert, dass er mir bis nach Europa folgte. Oder?
Von   dieser Vorstellung aufgebracht legte ich sowohl mein Make-Up, als auch meinen Pinsel so leise wie möglich auf den Boden vor mir und erhob  mich.  Ich musste unbedingt nachsehen, wer da rumorte, aber ich hatte  auch  unheimliche Angst. Was, wenn wirklich Roger vor mir stand? Oder irgendein anderer Irrer? Um einer solchen, durchaus möglichen, Situation nicht schutzlos ausgesetzt sein zu müssen, griff ich auf meinem Weg zur Tür nach einem Regenschirm, der auf einer Kommode lag. Mein Herz schlug mir bis zum Hals,  während ich langsam feststellte, dass zumindest im Wohnzimmer niemand  war. Mein  nächster Impuls trieb mich in den benachbarten Raum, das  Pianozimmer.  Auch dort war niemand und nichts, außer dem großen Klavier, was mich nur aufgeregter werden  ließ. Meine Finger umklammerten meine "Waffe" so fest, dass sie schon  schmerzten,  doch das brauchte ich in diesen Augenblicken. Ich musste mich an  irgendetwas festhalten können, ansonsten heulte ich wohl  einfach los.  Wieso fühlte ich mich so unfassbar schutzlos, wenn Harry  nur einmal  nicht da war? Wieder ein Krachen, diesmal ein aggressiveres, was eindeutig aus der Küche kam. Welcher Einbrecher nahm sich eine  Küche  vor? Davon etwas verwirrt, aber immernoch deutlich unter Adrenalin gesetzt, ging ich mit großen, leisen Schritten auf die  geschlossene Tür zu. Noch einmal tief durchatmen, Tay. Egal wer da ist, du kannst dich  verteidigen. Steve hat dich nicht umsonst zu diesem Selbstverteidigungskurs geschickt.
"Wer auch immer da drin ist, ich schwöre-", begann ich und trat die Tür auf, wobei ich sofort einen stechenden Schmerz in meiner Fußsohle spürte.
"Tay, vorsichtig", drang Harrys Stimme zu mir durch und ließ mich aufsehen. Oh Gott, es war   nur er. Zum Glück. "Hier liegen Scherben."
"Ich merk's", gab ich zurück und verzog das Gesicht, als ich zu Boden sah. Ich stand in einem Haufen bescheuerter Glasscherben, die in der Pfütze einer orangen Flüssigkeit lagen.
"Setz dich, komm", murmelte Harry und zog einen Stuhl heran, auf welchen ich mich erleichtert fallen ließ, um meine Fußsohle zu inspizieren. Bevor ich allerdings etwas tun konnte, kniete er sich vor mich hin und begann vorsichtig, das Glas aus der Wunde zu lösen und sie mit einem Tuch abzutupfen. Die Schmerzen wurden augenblicklich etwas erträglicher, auch wenn mein Fuß nicht unbedingt schön aussah, bis Harry die Scherben komplett herausgeholt hatte. "Das sollte reichen."
"Danke", gab ich zurück und setzte mich etwas aufrechter hin, während er sich wieder hinter den Ofen stellte und mit einem Löffel etwas darauf umrührte. Er hatte meinen Blick die ganze Zeit gemieden und machte auch jetzt keine Anstalten, mich anzusehen. "Was machst du hier? Ich dachte du musst arbeiten."
"Ich habe mir eine Mittagspause genommen", erklärte er und schaltete den Ofen ab, um mit einem Besen das Chaos auf dem Boden zu beseitigen. "Außerdem wusste ich, dass du verdammt hungrig sein würdest, wenn du deinen Arsch aus dem Bett bekommen hast. Was sollten der Regenschirm und die Jackie Chan Aktion gerade?"
"Ach, nichts", murmelte ich und legte den Schirm beschämt auf die Ablage. "Ich wusste nur nicht, ob du da bist. Hätte auch ein Einbrecher oder sowas sein können."
"Und den wolltest du mit einem Regenschirm niederstrecken?", erkundigte er sich sichtlich amüsiert, während er den Boden, den er säuberte, angrinste.
"Besser als unbewaffnet zu sein", gab ich schulterzuckend zurück und verdrückte mir ein Lächeln. Ich wusste, dass er den Kommentar kein bisschen böse meinte, doch mich störte sein belustigter Unterton irgendwie. Was sollte ich denn tun, wenn wirklich ein Einbrecher im Apartment war? Ich musste mich doch wehren können. Dieser Kommentar zeigte mir, wie unangenehm die Spannung, die irgendwie zwischen uns beiden herrschte und der wir beide wohl entkommen wollten, aber nicht konnten, wirklich war. Zumindest ging es mir so. Ich wollte eigentlich nichts mehr als wieder normal mit ihm zu sprechen und mich an ihn zu kuscheln, mehr, als die Nacht zuvor noch. Trotzdem hinderte mich mein Stolz daran, eben das zu tun und ihm so zu signalisieren, dass alles wieder gut war, denn das war es nicht. Das mit uns war ganz und gar nicht gut, bis wir endlich dieses Ella-Thema einmal ordentlich ausdiskutierten. "Du kochst?"
"Das Übliche", antwortete er schulterzuckend. "Käsetoasts. Nur halb verbrannt diesmal."
"Halb würde ich das nicht nennen", bemerkte ich, als ich mich über den Ofen beugte und das schwarz gebrannte Brot aus der viel zu heißen Pfanne fischte.
"Verdammte Scheiße!", stieß er geschockt hervor, als er sich neben mich stellte und das misslungene Frühstück begutachtete. Eigentlich war die Absicht hinter meiner Bemerkung eher die Stimmung etwas aufzuheitern, nicht, sie noch mehr zu verschlechtern.
"Nicht schlimm", versuchte ich ihn zu beschwichtigen und teilte die Portion auf zwei Teller auf. Hoffentlich konnten wir beim Frühstück normal über das Geschehene sprechen. Wenn wir beide etwas im Magen hatten, rasteten wir vielleicht nicht so sehr aus wie am vergangenen Abend. "Komm, setz dich. Lass uns essen."
Anscheined lag auch ihm etwas daran, dass die ganze Sache nicht sofort wieder eskalierte, denn er setzte sich ohne ein weiteres Wort an den Esstisch und fuhr sich geschafft durchs Haar. Als ich ihn genauer betrachtete, fielen mir dunkle Schatten unter seinen Augen auf. Wie spät war es am vorherigen Tag wohl gewesen, als er endlich nach Hause kam? Wann hatte er wieder aufstehen müssen? Hatte er getrunken? Wo hatte er sich herumgetrieben? Um diesen Fragen auf den Grund gehen zu können, packte ich die zwei Teller, zwei Bestecksets und zwei Tassen Kaffee auf ein Tablett und brachte die Sachen so zum Esstisch. Als ich jedoch das Frühstück auf dem Tisch abstellte, fiel mir ein gelber Zettel, der mittig auf dem Tisch lag, auf. Etwas verwirrt griff ich danach und las leise, was darauf stand: "Bin bei Ella, komme bald wieder. H. xx"

all you had to do was stayWhere stories live. Discover now