Kapitel 41

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Nach einiger Zeit, in der wir uns gehalten und ich versucht hatte, Harry irgendwie zu beruhigen, konnte ich ihn tatsächlich dazu bringen, sich mit mir ins Wohnzimmer zu begeben. Da ich ihn nicht allzu lange allein lassen wollte, zog ich mir nur kurz ein Set Unterwäsche und das Shirt, was ich zum Schlafen getragen hatte, über, während ich eine Kanne Tee kochen ließ. Als ich fertig war, holte ich diese, und ließ mich damit neben Harry auf dem Sofa nieder. Seit seinem Ausbruch hatte er kein Wort mehr gesagt, und auch in diesem Moment blieb er ruhig und sah mir dabei zu, wie ich das heiße Wasser in zwei Tassen schüttete.

"Hier, trink einen Schluck", murmelte ich und hielt ihm eine davon hin, bis er sie ergriff. Ich hatte Harry noch nie weinen sehen, weswegen ich mich ein wenig hilflos fühlte - wie tröstete man einen Menschen, den man nicht richtig verstehen konnte?
"Als du, völlig zurecht, vor mir weggelaufen bist", begann er nach weiteren ewig scheinenden Momente der Stille. "Ich habe mich gehasst. Tu ich heute noch irgendwie."
Unwillkürlich legte ich meine Hand auf seinem Unterarm ab, während er das Porzellan in seinen Händen betrachtete.
"Das Schlimmste waren die Morgen", erzählte er weiter. "Jeder scheiß Tag begann mit der elenden Realisation, dich verloren zu haben, weil du nicht neben mir im Bett warst."
Seine Worte machten mich abermals sprachlos. Natürlich wusste ich, dass ihm die Trennung zu schaffen gemacht hatte, sonst hätte er nicht so um mich gekämpft - aber dass er deswegen so erschrak, nur weil ich nicht neben ihm im Bett war, wenn er aufwachte, hatte ich niemals gedacht.
"Heute Morgen war ähnlich. Ich bin mit dem Geschmack von Alkohol und Zigaretten im Mund aufgewacht - ohne dich", erklärte er viel ruhiger, als seine Worte vielleicht vermuten ließen. "Tut mir leid, dass ich so einen Aufstand gemacht habe, Baby."
Nun wandte er sich endlich auch mir zu und sah mir ins Gesicht, womit er mir erneut eine Gänsehaut über den Körper jagte. Seine Augen waren leer und irgendwie farblos, wobei sie sonst immer so strahlten.
"Stehst du deshalb immer früher als ich auf?", fragte ich vorsichtig. Ich musste diese Frage einfach stellen, auch wenn ich mir die Antwort, die mir endgültig das Herz zerreißen würde, schon ausmalen konnte. Wie ich erwartet hatte, nickte er leicht, und fuhr sich dann durch seine langen Haare.
"Das macht es ein verdammtes Stück leichter, dauernd darauf zu warten, dass ich es verkacke und dich wieder verliere", murmelte er. "Wenn ich dich beim Aufwachen sicher bei mir habe."
"Baby...", seufzte ich nach einiger Zeit ergriffen und rückte ein Stück näher. Ich suchte verzweifelt seinen Blick, doch der wich mir seit seinem Geständnis krampfhaft aus, was es mir nicht leichter machte, etwas zu sagen. Es war wichtig für mich, ihm ins Gesicht sehen zu können, um mich sicher zu fühlen. "Sieh mich an."
Nur langsam hob er seinen Kopf und öffnete seine grünen Augen. Wie schon am vorherigen Abend wirkte es, als hätten sie ihren Glanz verloren. Er schien mit jedem Geständnis, mit jedem Stück, was ich über den Mann hinter der Maske erfuhr, ein klein wenig mehr zu brechen. Und ich wusste nicht, wie ich ihn zusammen halten sollte.
"Ich werde dich nicht allein lassen", begann ich so gefasst wie möglich, während eine meiner Hände zu seiner Wange wanderte. Ich konnte nicht genau sagen, wie viele meiner Worte ich mir selbst abkaufte, doch ich versuchte, ihnen so viel Wahrheitsgehalt wie möglich zu geben. "Solange du mich nicht dazu bringst, und ich weiß, dass du das nicht tun wirst. Ich vertraue dir, Harry."
"Du weißt, dass es für mich nur dich gibt, oder?", erkundigte er sich leise. Ja, ich wusste, dass er das immer sagte und wahrscheinlich auch so meinte. "Tay, ich-"
Er atmete tief ein, während ich ihn mit zusammen gezogenen Augenbrauen dabei betrachtete, wie er mit sich und den Worten rang. Was wollte er mir sagen?
"Ich-", wiederholte er.
"Schon gut, Harry", unterbrach ich ihn und lächelte schwach. Ich glaubte mittlerweile doch zu wissen, was er nicht über die Lippen brachte, und ich konnte es irgendwie verstehen. Es ist grauenvoll, wenn man sich unbedingt mitteilen möchte, gleichzeitig aber auch Angst vor den Worten hat. "Ich weiß."
Als er nun wieder zu mir aufblickte, sah er nicht mehr ganz so kaputt aus, wie nur Momente zuvor. Er wirkte erleichtert und doch bedürftig, bis er schlagartig seine Lippen auf meine presste und mich wieder sein gewohntes Temperament spüren ließ. Wieder einmal ließ er mich an seinen Gefühlen teil haben, ohne Worte zu benutzen, und das war für mich okay. Wir beide verstanden diese Sprache ohnehin besser, als jede andere.

all you had to do was stayWhere stories live. Discover now