Kapitel 35

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Ich erzählte Harry nicht von Rogers Postkarte. Wieso denn auch? Sie  war vermutlich sowieso nur ein weiterer seiner Scherze und Harry würde  sich entweder sorgen oder, noch schlimmer, ihm würde wieder eine  Sicherung durchbrennen. Er hatte sich schon so lange so gut im Griff -  das konnte und wollte ich nicht provozieren. Zu meinem Glück fragte er  auch nicht weiter nach, weswegen ich die Karte in meinem Schreibtisch  verschwinden ließ und das Thema nicht mehr ansprach. Nach dem schönen,  gleichzeitig aber wirklich anstrengenden, Tag warfen Harry und ich uns  nur noch aufs Sofa und ließen den Abend mit ein paar Serien ausklingen.  Wir genossen einfach die Stimmung und Nähe des anderen, wobei wir beide  unsere Handys völlig vergassen. Zumindest glaubte ich das, da Harry  seines keines Blickes würdigte.

Auch für den kommenden Tag stand nichts auf dem Plan, außer, dass  Harry bei mir war und wir die letzte Zeit vor unseren Tourneen genossen -  immerhin würden wir uns sehr lange Zeit nur selten sehen. Doch als ich  von einem lauten Klingeln geweckt wurde, fand ich genau ihn wieder weder  neben mir im Bett, noch in einem der anderen Räume meiner Wohnung. Es  kam mir wirklich ein wenig komisch vor, dass er nie bei mir war, wenn  ich aufwachte. Unwillkürlich kamen mir Austins Worte wieder in den Kopf,  welche versuchten, mir ein schlechtes Gefühl zu geben, doch ich wollte  mich nicht von ihnen beeinflussen lassen. Vielleicht war Harry nur  schnell zu Gemma und Anne gefahren und hatte vergessen, mir Bescheid zu  geben. Oder er holte uns Frühstück, oder er plante wieder irgendetwas  für den Tag. Ich vertraute Harry.
Als ich die Tür öffnete, spürte ich  einen kleinen Hoffnungsfunken in mir versiegen, als nicht er, sondern  Selena vor mir stand. Doch wie gewohnt schob ich diesen kleinen Schmerz  schnell zur Seite und verkreuzte meine Arme vor der Brust. Seit meinem  Geburtstag hatte ich nichts mehr von ihr gehört, und jetzt tauchte sie  plötzlich unangemeldet vor meiner Tür auf. Zwar freute ich mich, sie zu  sehen, doch angesichts der Umstände hielt sich das eher in Grenzen.
"Können  wir reden?", erkundigte sie sich und holte zwei Coffee-to-go-Becher  hinter ihrem Rücken hervor, welche sie mir als Friedensangebot  entgegenstreckte.
"Komm rein", murmelte ich und navigierte sie ins  Esszimmer, wo sie sich sofort auf dem Stuhl an der Tafelspitze  niederließ. Ich schnappte wir, ehe ich zu ihr ging, noch Harrys Hoodie  und zog ihn über das graue Shirt, welches ich zum Schlafen trug. Im  Esszimmer nahm ich auf dem Stuhl neben ihr Platz und ergriff den Kaffee,  den sie mir hinhielt. Eine ganze Weile sagte keine von uns etwas, bis  sie schließlich laut seufzte und eine ihrer braunen Haarsträhnen hinter  ihr Ohr schob.
"Es tut mir leid", erklärte sie. "Und zwar alles.  Dass ich nie für dich da war, wenn es um Harry ging, obwohl ich genau  das hätte sein müssen. Du warst immer für mich da, wenn ich mit Justin  Probleme hatte, und ich nie für dich. Es tut mir einfach leid."
"Schon  gut", gab ich lächelnd zurück und legte eine meiner Hände auf ihre.  Mehr als das wollte ich eigentlich gar nicht hören, weil das der einzige  Grund dafür war, dass ich überhaupt verärgert war. "Ich bin froh, dass  du hier bist."
"Also ist alles wieder gut?", hakte sie schon etwas fröhlicher nach, woraufhin ich nickte.
"Ja, na klar. Ich habe dich vermisst", antwortete ich leise.
"Ich  dich auch", murmelte sie und nahm mich über den Tisch hinweg in den  Arm, was ich glücklich erwiderte. Selena hatte mir wirklich gefehlt,  auch wenn ich es mir die meiste Zeit nicht zugestanden hatte - sie war  eben trotz allem meine Beste Freundin. Selena brauchte nie viele Worte, um mich milde zu stimmen, wenn ich verärgert war - das war eine der Eigenschaften unserer Freundschaft, die ich sehr schätzte. Augenblicklich bekam ich das Gefühl, dass ab da vielleicht ja wirklich  alles gut ging; mit Harry an meiner Seite und der Unterstützung meiner  Freunde konnte eigentlich nichts mehr schief gehen. "Und jetzt erzähl  mir alles, was ich verpasst habe."

Ich tat, was sie verlangte, und berichtete ihr von jedem Auf und Ab  zwischen Harry und mir. Sie hörte mir gespannt zu, und obwohl sie ein  wenig enttäuscht darüber wirkte, wie es zwischen mir und Adam zu Ende  gegangen war, machte sie keinen blöden Kommentar über Harry. Sie schien  sich sogar ein bisschen zu freuen, als ich ihr sagte, dass wir wieder  zusammen waren. Als ich geendet hatte, wünschte sie uns, oder eher mir,  viel Glück mit der Sache und erzählte dann von ihrer Beziehung mit  Justin, welche wieder einmal kurz vor dem Aus stand. Sie kam einfach  nicht mehr mit seinen Allüren zurecht; vor allem, weil er mehr trank und  rauchte, als je zuvor. Ich konnte nicht verstehen, wie er eine so tolle  Frau, wie Sel es war, so schlecht behandeln konnte, war aber auch die  Letzte, die sich dazu einen Kommentar leisten konnte. Männer wussten  anscheinend nicht wirklich, was sie hatten, bis sie es endgültig  verloren. Nachdem wir einander unsere Beziehungsprobleme aufgeschwatzt  hatten, ging unser Gespräch wieder in eine alltägliche Richtung - so  sprachen wir über das Weihnachtsfest und den Grund dafür, dass Sel  überhaupt in New York City war. Natürlich hatte es mit einem neuen Job  zutun, für dessen Casting sie dringend hier her musste. Wie sie mir  mitteilte, wollte sie ihren Fokus im neuen Jahr auf die Schauspielerei  legen und so viele Filme wie möglich drehen.
"Was machst du  eigentlich an Silvester?", erkundigte sie sich lächelnd und lehnte sich  zurück. Gerade als ich mit den Schultern zuckte und ihr antworten  wollte, dass ich eigentlich noch keine Pläne für das Ende des Jahres  2012 hatte, antwortete jemand anders für mich.
"Wir werden in London  feiern", gab Harry tonlos zurück und kam durch die Esszimmertür  geschneit, als wäre es das Normalste der Welt. In seiner Hand trug er  eine große Papiertüte mit der Aufschrift Dunkin Donuts, welche er vor  mir platzierte.
"Wo warst du?", fragte ich mit zusammengezogenen  Augenbrauen, während er seine dunkelbraune Lederjacke von seinen  Schulter striff.
"Frühstück holen", murmelte er und drückte mir  einen Kuss ins Haar, ehe er wieder aus dem Zimmer ging. Unwillkürlich  stand ich auf, warf Selena einen entschuldigenden Blick zu, und folgte  ihm dann in den Flur, wo er seine Schuhe auszog.
"Seit wann feiern  wir Silvester in London?", hakte ich nach und verschränkte meine Arme  vor der Brust, weswegen er spielerisch die Augen verdrehte.
"Ich  wollte dich heute zu mir einladen, und bin einfach davon ausgegangen,  dass du mitkommen willst", antwortete er und erhob sich. "Hast du wohl  etwas dagegen?"
"Nein, natürlich nicht", murmelte ich und ließ mich  von ihm in eine Umarmung ziehen. "Tut mir leid. Es ist nur, dass ich die  ganze Zeit nicht wusste, wo du warst, und dann bestimmst du so etwas  einfach."
"Schon gut", gab er zurück und küsste mich abermals ins  Haar, ehe wir uns von einander lösten und gemeinsam zurück ins Esszimmer  gingen. Selena tippte auf ihrem Handy herum, welches sie direkt  wegsteckte, als wir uns setzten.
"Ich wusste nicht, dass wir Besuch  haben, deswegen habe ich nur für zwei eingekauft", erklärte Harry mit  gleichgültigem Unterton und öffnete die süß duftende Tüte, um das  Frühstück zu verteilen. Ich hoffte, dass Selena Harrys Abneigung gegen sie nicht so offensichtlich vorkam wie mir, denn er gab sich keinerlei Mühe, diese zu verstecken.
"Selena kann meins haben, ich mag doch das  Zeug von den großen Marken nicht so", warf ich ein und schob ihr den  Bagel, der für mich bestimmt war, zu. "Ich esse einfach Müsli."

all you had to do was stayWhere stories live. Discover now