Kapitel 24- Die Asperitas

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Ich wache von einem lauten Knall auf. Ein wütendes knurren erfüllt die Luft. „Lass sie sofort los!“.

Ich öffne meine Augen, aber nur zu schmalen Schlitzen. Sofort sehe wieder alles so klar, wie es auch schon in der Nacht der Fall gewesen war. Nur, dass jetzt der Tag anbricht und die Nacht endet. Mein Blick fällt auf den großen, gut aussehenden Mann, der sprungbereit nahe der Tür steht und mich anknurrt. Ich hebe meinen Kopf ein wenig an, damit ich ihn noch besser sehen kann. Es ist Sebastian.

Vor Freude zucke ich nach oben, aber die Fesseln halten mich zurück. Wieder kommt ein knurren von ihm, nur lauter. Erst jetzt realisiere ich, dass er mich angeknurrt hat und mich angewiesen hat, jemanden loszulassen. Verwirrt schüttele ich den Kopf und schließe kurz die Augen. Als ich sie öffne sehe ich immer noch das wütend verzerrte Gesicht an ihm. „Lass sie- sofort los“, sprach er langsam aber mit einer unendlichen härten in seiner Stimme, als würde er mich um alles auf der Welt verabscheuen. Was ist hier nur los? Warum hasst er mich auf einmal? Verletzt über sein Verhalten ziehe ich tief die Luft ein. Und dann rieche ich es.

So süßes, leichtes, sauberes Blut. Mein Kopf fliegt ruckartig und so schnell nach links, dass sich ein Teil von mir über die schnelle Bewegung wundert. Doch der viel größere Teil ist so hungrig. Meine Augen richten sich sofort auf die Quelle des unglaublich anziehenden Geruchs. Aurora. Verschlafen blinzelt sie und reibt sich die Augen. Ich sehe eine dicke blaue Ader an ihrem weißen Hals, durch die unaufhörlich, köstliches und süßes Blut fließt. Das ist die Arteria Carotis, berichtet mich mein jahrelang geschultes Arztwissen. Ja, das ist die Halsschlagader. Würde ich dort hinein beißen, würde ich innerhalb von ein paar Minuten sämtliches Blut des Mädchens trinken können. Sollte der Typ neben der Tür nur versuchen, sie mir weg zu nehmen. Er will doch alles nur für sich. Aber das lasse ich nicht zu! Mein Kopf senkt sich auf den Hals von Aurora. Ein Teil von mir ist so von mir angewidert und will mich abhalten. Aber der hungrige, neue Teil an mir hat gerade das handeln übernommen und ich kann ihn nicht zurück halten. Es ist für mich, als würde ich versuchen eine Lawine mit den bloßen Händen aufzuhalten, die dröhnend auf mich zu rollt.

Plötzlich fühle ich, wie sich mein Oberkiefer verschiebt. Es tut gleichzeitig weh und tut aber so unendlich gut. Gleich werde ich das frische, saubere Blut kosten können. Meine Lippen legen sich kurz auf die weiche, kindliche Haut und ich ziehe förmlich den sauberen Geruch des Kindes in mich hinein. Gerade öffne ich den Mund, als ich noch einmal das wütende knurren höre.

„Keira! Wage es nicht, sie anzurühren!“, dabei klingt eine Seite in mir, die ich nicht ignorieren kann. Das Band das uns verbindet, vibriert bei diesen Worten und ich schaffe es das wilde Etwas in mir zurück zu drängen. Entsetzt rücke ich von Aurora weg und reiße meine Augen auf. Schlagartig wird mir bewusst, was ich fast getan hätte.

Nur um ein Haar hätte ich meine Zähne in den Hals eines kleinen Mädchens versenkt und ihr gesamtes Blut getrunken. Was ist nur in mich gefahren? Ein Schluchzen erfüllt den Raum. Ich schaue zu Aurora, doch die kann es nicht gewesen sein. Sie liegt noch immer ruhig auf dem Bett. Blitzschnell beugt sich Sebastian vor und zerrt Aurora neben mir aus dem Bett. „Wage es nicht noch einmal Aurora anzufassen!“, sprach er mich an und seine Züge waren dabei so vor Abscheu verzerrt, dass ich mich noch weiter an die Wand drücke. Das Schluchzen wird lauter und die Brust tut mir so unendlich weh. Das Entsetzten fast diesem Drang nachgegeben zu haben, wütet so schwer in mir, dass mir heiße Tränen über die Wangen laufen. Dann wird das laute Schluchzen wohl auch von dir sein, bemerke ich trocken.

Immer noch entsetzt schaue ich zu Sebastian, doch seine Züge sind unverändert. Es tut mir so weh, ihn so zu sehen. „Onkel Sebastian, was ist nur los? Warum schaust du Tante Keira so böse an?“, fragt Aurora und gähnt dann ausgiebig. Sebastians Züge verhärten sich noch mehr und ich sehe, wie seine Kiefermuskeln zucken. „Das ist nicht deine Tante. Das ist nicht einmal mehr Keira.“ Mit diesen Worten wendet er sich ab und läuft zur Tür. „Sebastian, es tut mir so Leid. Ich wollte nicht… ich werde nie wieder…“, fange ich an, kann aber nicht weiter sprechen. Das Entsetzten über das, was gerade fast passiert ist und der Gedanke, dass ich mich auch nicht hätte zurück halten können, wenn ich noch einmal in der Situation gewesen wäre, schnürt mir die Kehle zu. Ich ekel mich vor mir selbst.

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