Kapitel 49 - Konzentration

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Ich habe es nicht getan. Es war verdammt knapp gewesen, aber ich habe mich noch beherrschen können. Ich habe Brutus nicht die Kehle heraus gerissen. Vielleicht werde ich das irgendwann noch einmal bereuen. Seufzend wische ich den Gedanken weg.

Im Moment sitze ich auf der Coach und warte, bis Brutus sein kleines Geschäft verrichtet hat. Danach soll der Unterricht beginnen. Was er mir wohl als erstes beibringen wird?  Sebastian hat uns nur abgesetzt und ist dann gleich wieder los gefahren. Er hat gemeint er muss noch etwas erledigen. Am liebsten wäre ich an sein Bein gehüpft und hätte mich dort fest gekrallt. Ich will nicht allein mit Brutus sein. Der Unterricht im Auto war schon schlimm genug gewesen.

Die Zeit will einfach nicht stehen bleiben, egal wie sehr ich mich auf die Zeiger der Uhr konzentriere und ihr 'Stopp!' zu rufe. Sie läuft einfach weiter, als hätte sie nichts davon gehört. Nach einigen Minuten kommt mein persönlicher Lehrer ins Wohnzimmer geschlichen. Er hat sich seit dem Unfall einen wirklich lustig anzusehenden Schongang angeeignet. Der Oberkörper ist nach vorn gebeugt, die Füße heben sich beim Laufen nicht vom Boden ab, sondern rutschen nur voran. Nach gefühlt etlichen Minuten lässt er sich auf einen kleinen Schwimmring neben mir auf dem Sofa nieder. (Er rutscht noch ein paar Mal auf dem Ding hin und her, bis er eine bequeme Sitzposition gefunden hat. Jede Bewegung verursacht einen ziemlich unangenehmen Quitschton, der sofort ins Gehirn fährt und meine ohnehin schon strapazierten Nerven reizt!)

„Okay, das geht. Fangen wir also mit der zweiten Unterrichtsstunde an. Wir werden jetzt unser Hirn trainieren, denn dies ist der Schlüssel zum Erfolg. Willst du deine Gedanken innerhalb deines Kopfes behalten und nicht immer alle daran teil haben lassen?“ „Ja?“, sage ich vorsichtig. „Habe ich mir gedacht! Es war nicht wirklich lustig ständig das Wort 'Stop' in meinem Kopf hören zu müssen. Und willst du auch die nächsten Tage so heil wie möglich überstehen, ohne von den Schmerzen verrückt zu werden?“, fragt mich Brutus. Dieses mal antworte ich sicherer. Denn das will ich auf jeden Fall. Brutus wird also wirklich sinnvolle Dinge mit mir machen, die mir helfen werden die Verwandlung zu überstehen. „Das wird das Ziel für heute, morgen und übermorgen früh sein. Bis die erste Schmerzwelle kommt.“ Ich nicke langsam.

„Gut, da wir das Ziel der nächsten Stunden geklärt haben, werde ich dir jetzt das Thema, oder besser gesagt: den Schlüssel nennen, der die unangenehmen Zustände verhindert oder wenigstens abmildert.“, Brutus macht eine kunstvolle Pause. „Hast du es schon erraten, worum es geht?“ „Ähm.“ Tatsächlich muss ich im Geiste noch einmal rekapitulieren, was er gerade gesagt hat, denn dieser Schachtelsatz eben war ja der Wahnsinn! So viel Konzentration werde ich wohl heute nicht mehr aufbringen können… Moment mal! „Konzentration.“, flüstere ich. „Richtig, Keira! Ich bin beeindruckt! Du hast Recht, Konzentration ist der Schlüssel den du brauchen wirst. Wenn es dich beruhigt, werde ich bei diesem Thema mit üben. Denn Konzentration ist nicht nur der Schlüssel für deine Problemchen, sondern auch für meines: die Kontrolle des Blutrausches.“ „Warte. Darf ich dich bevor wir anfangen noch etwas persönliches fragen?“ Brutus Gesicht wird hart wie eine Maske. „Ich ahne, worauf das hinausläuft. Nein, du darfst mir keine persönliche Frage stellen.“ „Ach komm schon, Brutus! Bitte!“ „Nein.“, entgegnet er mit harter Stimme. „Bitte! Ich verspreche dir auch, dass ich immer gut mit machen und nicht herum nörgeln werde.“ Mein Lehrer mustert mich mehrere Sekunden, bevor er zugibt: „Das ist ein wahrlich interessantes Angebot. Was genau erwartest du für Gegenleistung?“ „Ich würde nur gern ein wenig von dir wissen wollen. Zum Beispiel: Warum warst du bei den Asperitas? Wer ist Julia Sommer? Ist es wahr, dass man nach der Verwandlung nicht mehr auf Vampirblut reagiert? Wenn ja, warum ist das bei dir so?“ „Das sind aber eine Menge fragen. Und auch nicht wirklich angenehme Themen für mich.“ „Ich weiß. Aber die nächsten Stunden und Tage werden für mich auch nicht wirklich angenehm werden. Deshalb schlage ich dir folgenden Deal vor: Am Ende jeder Übung darf ich dir eine Frage stellen, die du mir dann beantwortest.“ „Ich beantworte dir nur eine einzige Frag und das wars!“ „Vergiss es. Nach jeder fünften Übung eine persönliche Frage an dich.“ „Niemals, Keira! Ich werde dir zwei Fragen beantworten! Mehr nicht!“ Ich überlege kurz und entgegne dann: „Du musst auch mal sehen, dass ich nur noch heute und morgen klar bei Verstand sein werde. Deshalb sage ich, du beantwortest mir heute nach dem Unterricht eine Frage. Morgen zwei, eine Mittag und eine Abend. Wieder jeweils nach dem Unterricht. Dann noch einmal übermorgen früh, bevor die Schmerzen einsetzen werden. Und-“, noch einmal überlege ich, ob ich die nächsten Worte wirklich aussprechen will. Ich wäge meine Optionen hin und her, aber die Neugier ist einfach stärker, deshalb spreche ich es doch aus: „Und du hast noch etwas bei mir gut.“ „Ich habe noch etwas bei dir gut? Egal was?“, Brutus' Augen leuchten vor Begeisterung hell auf. „Egal was.“ Hastig füge ich hinzu: „Aber nur wenn du mir versprichst, dass es nichts anzügliches oder körperliches sein wird!“ Brutus winkt ab. „Das kann ich dir gern versprechen. Mein Herz gehört sowieso schon…“, mit kalkweißem Gesicht bricht er ab. „Okay. Deal. Ich habe deine volle Aufmerksamkeit und Mitarbeit während deines Unterrichts und einen Gefallen bei dir gut. Dafür gewähre ich dir eine Frage heute, zwei morgen und eine übermorgen bevor die Schmerzen beginnen.“ Er hält mir die Hand hin. Ich habe ein mulmiges Gefühl im Bauch und frage mich, ob ich nicht ein wenig zu viel riskiere, nur um ein paar Antworten von ihm zu bekommen. Kurzerhand schüttele ich die Zweifel ab und stimme dem Deal per Handschlag zu.

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