70. Long way down

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Am nächsten Morgen wache ich noch vor dem Klingeln meines Handyweckers wach. Mein Körper hatte sich schnell ans frühe Aufstehen gewöhnt, was ich ja seit ein paar Wochen machen musste, da ich mich um Gemma kümmerte.

Geduscht habe ich gestern Abend noch, also konnte ich das heute Morgen auslassen. Ich schlüpfe in eine schwarze Trainingshose und ein mintgrünes Shirt, ehe ich meine Schlüsselkarte und mein Handy schnappe. Leise schließe ich meine Zimmertür und gehe zum Essenssaal, damit ich frühstücken konnte.

Ungesundes Frühstück suche ich hier vergeblich, also fülle ich mir Obst, Joghurt und Haferflocken in eine Schüssel, mit der ich mich an einen Tisch setze. Der Saal ist schon relativ voll, so dass ich mich gar nicht wundere, als plötzlich jemand neben mir steht. "Hi, ist neben dir noch Platz?" Ich hebe meinen Kopf und blicke geradewegs in die blauen Augen eines zierlichen Mädchens mit blonden Haaren. Sie ist wirklich dünn, aber dennoch hübsch und muss in etwa in meinem Alter sein.

"Ja klar, setz dich doch.", antworte ich ihr und rutsche einen Stuhl weiter. "Dankeschön. Bist du neu hier? Ich habe dich noch nie gesehen.", fragt sie und setzt sich auf den Stuhl, auf welchem ich eben noch saß. "Ich bin erst seit gestern hier und du?" - "Ah okay, das erklärt das. Ich bin schon eine Woche hier.", grinst sie und schiebt sich einen Löffel Joghurt in den Mund.

"Darf ich dich fragen, warum du hier bist?", fragt sie vorsichtig. "Zu viel Stress. Mein Schicksalsgeber war in den letzten Wochen und Monaten sehr fleißig. Und du?" Sie dreht ihren Kopf und grinst etwas schief. "Sieht man das denn nicht?" Ich runzle die Stirn und hebe fragend eine Augenbraue. Das Einzige was mir auffällt, wäre vielleicht das Gewicht. Jedoch will ich ihr auch nicht zu nahe treten. "Ich hatte Bulimie. Naja, so ganz los kommt man davon wohl nie. Aber mir geht es besser...", klärt sie mich schließlich auf. "...ich bin übrigens Taylor." - "Ich heiße Louis.", grinse ich sie an. Vielleicht könnte ich mich mit ihr anfreunden. Sie ist nett, allerdings werde ich auch höchstvorsichtig sein, denn Eleanor schwirrt noch in meinem Kopf.

Wir bleiben beide noch sitzen, da wir noch etwas Zeit haben. Auch sie hat gleich eine Einzeltherapie und Taylor erzählt mir, dass das alles gar nicht so schlimm ist. Ich solle mich nur nicht zurückhalten, mich schämen oder sonstiges. Wenn man sich den Ärzten und Psychologen gegenüber öffnet, hilft es einem am Besten. 

Taylor berichtet mir auch, dass sie schon ziemlich lange und immer mal wieder in Therapie ist. Sie wurde immer wieder rückfällig, doch dieses Mal will sie es durchziehen und sie meint auch, dass es super läuft bei ihr. Ich hoffe, dass sie sich nicht täuscht.

"In welchem Flügel ist denn dein Zimmer?", will sie von mir wissen, als wir uns voneinander verabschieden. Dieses Therapiezentrum hat verschiedene Trakte und jeder Flügel hat eine Farbe. "Im blauen Flügel. Frag mich aber nicht nach der Zimmernummer, die habe ich mir nicht gemerkt.", lache ich. "Ah okay. Dann sind unsere Trakte ja nebeneinander. Ich bin im Grünen. Na gut Louis, ich muss jetzt los. Wir laufen uns bestimmt wieder übern Weg.", verabschiedet sich Taylor und winkt noch einmal. Ich winke auch und drehe mich dann um, um den Raum aufzusuchen, in welchem gleich meine erste Einzeltherapie stattfinden soll. Draußen vor der Tür zünde ich mir noch schnell eine Zigarette an. Am Anfang hatte ich echt Schiss, dass man mir die wegnehmen würde, aber das war zum Glück nicht der Fall. Wobei Harry sich freuen würde, wenn ich aufhören würde. Er hat es zwar noch nie gesagt, dennoch weiß ich es. Das kann er aber vergessen, meine Kippen brauche ich.

Ich drücke den Zigarettenstummel im vorhandenen Aschenbecher aus und gehe dann ins Gebäude zu den Behandlungszimmern. Die Tür steht offen und vorsichtig klopfe ich an. "Herein." Ich gehe hinein und eine ältere Frau mit grauen Haaren, die sie zu einem Dutt gebunden hat, sitzt in einem der Sessel, während sie ein Klemmbrett auf dem Schoß hat. Sie hebt den Blick und lächelt mich freundlich an. "Hallo, du musst Louis sein, richtig?" - "Ja, das ist richtig." - "Ich bin Grace. Komm doch rein." Ich schließe die Tür hinter mir und setze mich dann gegenüber von ihr auf das Sofa.

Im Prinzip läuft das Gespräch ähnlich wie das mit meinem Arzt oder gestern mit Mike, nur etwas ausführlicher. Ich nehme mir Taylors Tipp vor und spreche einfach aus, was Grace mich fragt und mache mir keine Gedanken darüber, was sie über mich denken könnte. Immer wieder nehme ich wahr, wie sie sich Notizen macht und mich neugierig mustert, während ich erzähle, was die letzten Wochen alles so passiert ist. Nach etwa einer Dreiviertelstunde beendet sie dann aber das Gespräch. "Ich denke, das reicht für heute. Ich freue mich, dass du so offen erzählt hast. Glaub mir, das wird dir helfen und ich bin mir sicher, dass wir nach den drei Wochen tolle Ergebnisse haben."

Nachdem wir uns voneinander verabschiedet haben, gehe ich einen Kaffee trinken, da ich bis zur Gruppentherapie noch etwas Zeit hatte. Was das wohl für eine Truppe ist? Ich kann mir einfach nichts darunter vorstellen. Vielleicht wie bei so einem Treffen einer Selbsthilfegruppe? Darüber habe ich mal einen Bericht im Fernsehen geschaut. Oder Gruppen-Hypnose. Das wäre ziemlich witzig. Leise lachend schüttel ich den Kopf und ziehe mein Handy heraus. Ich habe eine neue Nachricht.

From: Harry
Ich denke an dich xx

Verträumt und lächelnd streiche ich mit dem Daumen übers Display. Mein Harry. Obwohl ich es schon so oft bei ihm erlebt habe, bin ich immer wieder fasziniert von meinen eigenen Gefühlen, die er bei mir auslösen kann und zwar nur er. 

"Na, schreibst du mit der großen Liebe?" Blinzelnd blicke ich auf und sehe in das schmunzelnde Gesicht von Taylor. "Du schon wieder. Ja, mache ich.", grinse ich zurück, doch Taylor seufzt. "Du Glücklicher. Mir haben sie das Handy abgenommen." - "Oh, wieso denn das?", frage ich nach. "Naja, ich war wohl selbst schuld. Ich hatte Kontakt mit zwei Freundinnen, die auch so drauf sind, wie ich war, allerdings sind sie nicht in Behandlung. Sie haben mich immer wieder runtergezogen."

"Oh okay. Aber... bist du denn nicht froh, dass dich niemand mehr runterzieht?" - "Doch schon. Aber ich hatte ja auch noch andere Kontakte. Meine Eltern zum Beispiel. Mit denen kann ich ja auch nicht mehr schreiben. Naja, ich hab's selbst verbockt. Gleich haben wir Gruppentherapie, ich glaube, wir haben zusammen." - "Echt? Das wäre cool. Wie läuft sowas eigentlich ab?"

"Also wir sitzen meistens mit Sitzkissen auf dem Fußboden im Kreis und reden halt über unsere Probleme und Sorgen. Der Gruppenleiter sagt fast nie etwas. Es öffnet dir die Augen, dass nicht nur du Probleme hast, sondern auch andere Menschen. Man stellt fest, dass es viele mit dem gleichen oder ähnlichen Schicksal gibt." Verstehend nicke ich. Also tatsächlich wie in so einer Selbsthilfegruppe.

Einige Minuten später stehen wir auf und gehen zusammen in den Raum, der für die Gruppentherapie vorgesehen ist. Ich finde, er sieht etwas wie ein Gymnastikraum aus, denn an einer Seite ist eine Spiegelwand. Man kann sich verschiedene Sitzgelegenheiten wie Sitzkissen, Gymnastikbälle, Stepper oder auch Stühle nehmen. Drei weitere Personen sind schon da, sitzen auf einer Matte im Schneidersitz und mustern mich neugierig. Ich bin wahrscheinlich das Frischfleisch hier und darf gleich erstmal erzählen. Schnell nicke ich ihnen zu und folge dann Taylor zu dem großen Regal, um mir auch ein Sitzkissen zu nehmen. 

Neben Taylor setze ich mich ebenfalls auf den Fußboden und schaue mir unauffällig die anderen an. Sehe ich auch so müde und verbraucht aus? Oh man, ich fühle mich kopftechnisch wirklich, wie ein Abhängiger auf Entzugstherapie. Wie konnte ich mich nur immer soweit runterziehen lassen und zum Schnaps greifen? War oder bin ich psychisch wirklich so labil? Ich fahre mit den Fingern durch meine Haare und schaue zum Gruppenleiter, der gerade durch die Tür kommt.

Dann lass uns mal starten.







Where is the love - [Larry-AU] Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt