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Ich war einfach sehr vergesslich. Keine schöne Eigenschaft, aber auch nichts, was man hätte ändern können. Doch ich tat alles, um es zu verbergen.
Täglich schrieb ich mir Massen an Klebezetteln und Notizen in mein Handy. Andere Menschen notierten sich Geburts- und Jahrestage. Ich ließ mich an mein Portemonnaie, meine Hausaufgaben und Tests erinnern.
Manchmal vergaß ich Wochen lang nichts und dann gab es Tage, an denen ich sogar vergaß mir Erinnerungen zu schreiben.
Es konnte anstrengend sein, sich immer alles aufschreiben zu müssen, doch inzwischen hatte ich mich daran gewöhnt.

Seit einigen Wochen hatte ich kein Blackout mehr gehabt, weshalb meine Notizen stark abgenommen hatten, doch an dem heutigen Tag schaute ich meine Klassenkameraden völlig verständnislos an, als sie vor der Englischstunde nochmal in ihre Bücher schauten.
Kurzerhand entschloss ich mich Mary, meine beste Freundin zu fragen, weshalb alle auf die Bücher starrten, als erhofften sie, die Vokabeln irgendwie in ihr Gehirn aufsaugen zu können.

„Oh Aria. Sag nicht, dass du es wieder vergessen hast. Wir schreiben heute einen Englischtest."

Natürlich wusste Mary über meine Vergesslichkeit Bescheid. Sie war eine der Wenigen, die sich nie darüber lustig machte. Ich tat ihr viel eher leid. Doch der mitleidige Blick, den sie mir jetzt zuwarf, half mir auch nicht weiter.
Ausgerechnet Englisch! Ich war schon kein Sprachentalent und dann konnte ich nicht mal die Vokabeln! Ich gab mir innerlich eine Backpfeife.
Das passierte, wenn man sich auf sein Kurzzeitgedächtnis verließ.

Ich griff nach meinem Lehrbuch, blätterte mich durch Statistiken, Karikaturen und Texte und gelangte schließlich zu dem Vokabelabschnitt.
Ich sah auf.

„Nur die zweite Lektion oder auch die dritte?", fragte ich Mary.

„Auch die dritte."

Ihr Blick wurde noch mitleidiger, weshalb ich meinen Blick schnell wieder senkte. Lieber schaute ich mir diese blöden Wörter an, als von Marys Fürsorge erstickt zu werden.
Sie meinte es nicht böse und das war mir auch bewusst, doch manchmal reagierte sie übertrieben.

„Shit", flüsterte ich leise, als ich die Seiten umblätterte, um mir einen Überblick über die Menge der beiden Lektionen zu verschaffen.
Ich stieß auf Wörter wie „Injektionsspritze" und „Treibhauseffekt". Ich versuchte mich die paar Minuten vor dem Unterricht auf die Wörter zu konzentrieren, konnte mir sogar einige noch einprägen, aber sobald unsere Lehrerin uns den Vokabeltest auf den Tisch warf, hatte ich alles vergessen. Es war zum verrückt werden. Wahrscheinlich hatte ich mir zu viel Panik gemacht und musste deshalb ein Blackout haben. Aus diesem Grund legte ich den Test beiseite und atmete tief durch.
Einige wenige Wörter fielen mir wieder ein, doch ein weiteres Problem war die Rechtschreibung.
Wie konnte ich bloß so ein hoffnungsloser Fall sein? Und das alles nur, weil ich mir keinen Klebezettel geschrieben hatte!

Nach Englisch war der Tag für mich gelaufen. Ich hörte den Lehrern nur noch mit halben Ohr zu. Mary versuchte mich aufzuheitern, doch das gelang ihr schlechter, als sie wahrscheinlich erhoffte. Die ganze Zeit fragte ich mich, was nur mit mir los war, dass ich so viel vergaß. War mein Gehirn überfordert und schmiss deshalb nebensächliche Informationen raus? Dann hatte es aber keinen guten Sinn für wichtige und unwichtige Dinge.
Letzten Monat hatte ich vergessen meiner Oma zum Geburtstag zu gratulieren, obwohl meine Mutter mich an dem Tag fünfmal daran erinnerte.
Auch an diesem Tag hatte ich mir keinen Klebezettel geschrieben.

Nach unserer letzten Stunde schlenderten Mary und ich durch das Schulgebäude. Es war warm und stickig und wir beeilten uns beide so schnell wie möglich an die frische Luft zu kommen. Dass auch keiner mal auf die Idee kam, die Fenster zu öffnen. Endlich draußen angekommen, atmeten wir beide tief durch. Es war zwar schon September, dennoch erreichten die Temperaturen jede Woche neue Höhepunkte. Zusätzlich war es in letzter Zeit ungewohnt schwül.
Mary und ich liefen gerade in Richtung Bushaltestelle, als sie mich auf den Englischtest ansprach.

„Wie werden deine Eltern wohl reagieren?"

Ich wischte mir den Schweiß von der Stirn und vermied ihr in die Augen zu schauen.

„Ich weiß es nicht. Begeistert werden sie jedenfalls nicht sein."

Meine Mutter konnte eines nicht ausstehen und das war Unzuverlässigkeit.
Aus meiner Vergesslichkeit resultierte auch, dass ich Treffen und Abmachungen nicht einhielt. Da sie außerdem wusste, dass ich meine Probleme mit den Fremdsprachen hatte, traf ich nicht auf ihr Verständnis, wenn ich nicht einmal die Vokabeln gelernt hatte. Da dieser Test ein reiner Vokabeltest gewesen war, konnte ich mir ihre Unzufriedenheit jetzt schon vorstellen.
Ich sah sie genau vor mir. Sie würde sich an den Herd lehnen und ihre Stirn würde dieselbe kleine Falte haben wie immer, wenn sie enttäuscht war.
Wir stiegen in den Bus. An der letzten Station standen wir auf, verließen ihn und liefen weiter.

Wir hielten an der Kreuzung, an welcher sich unsere Wege trennten. Mary umarmte mich kurz und bot mir ihren Schutz und das Haus ihrer Eltern im Falle einer Eskalation an.
Kurz schaute ich ihr hinterher und gestand mir ein, dass ich doch ziemlich viel Glück mit meiner besten Freundin hatte.
Dann lief ich weiter und überlegte nach der besten Ausrede, weshalb ich den Test vergessen haben könnte.

Gaps in my HeadWo Geschichten leben. Entdecke jetzt