21

182 10 0
                                    

Er hatte ihn mir weggenommen. Es mochte sich seltsam anhören, doch ich fühlte mich bestohlen.
So oft hatte ich mir vorgestellt, wie unser erster Kuss ablaufen würde. So oft habe ich mir Gedanken über den Ort und die Zeit gemacht.
Häufig waren wir kurz davor gewesen. Doch ich hatte mir ausnahmslos bei jedem Tagtraum vorgestellt, dass es perfekt wäre.

Nicht, dass dies mein erster Kuss gewesen war. Doch er war insofern der Erste, als dass mir Damon wirklich etwas bedeutete. Nie zuvor hatte ich das Gefühl, dass ein Junge so gut zu mir passte. Damon war liebevoll und aufmerksam und gleichzeitig strahlte er solch eine Stärke und Entschlossenheit aus.
Er hatte mich geküsst. Ich fuhr mit meine Händen vorsichtig über die Lippen. Schlagartig war ich wieder an der Haustür. Zusammen mit ihm. Wie er sich zu mir beugte, mich küsste.
Und dennoch hatte er das nur als Ablenkung getan.

Hatte ihm der Kuss überhaupt etwas bedeutet? Hatte er ihn mitbekommen?
Vielleicht war ich zu emotional, doch ich war in keiner Weise zufrieden mit dem Kuss.
Zum Ersten, weil man zum Küssen immer zwei brauchte und zum anderen, weil er einfach viel zu kurz war.

Es fühlte sich so an, als würde mir Damon immer wieder Brotkrümel zuwerfen, damit ich nicht verhungerte, aber niemals so viele, als dass ich gänzlich satt wurde. Und das ging mir mächtig auf die Nerven.

Bedeutete ich ihm nun etwas? In meiner Welt war ein Kuss ein eindeutiges Zeichen, dass man sich mochte, aber ich wusste nicht, wie das in Damons Welt ablief. War dies bloß eine Taktik, um mich warm zu halten?
Aber nein! Ich konnte nicht immer das Schlimmste von ihm erwartet. Fakt war, dass er mich geküsst hatte. Er hatte die Initiative ergriffen und unsere Beziehung auf ein neues Level gehoben. Nun musste ich überlegen, wie ich darauf reagieren sollte.

Eigentlich hatte er ja nichts getan, was mir nicht gefiel oder mich gar bedrängt. Als er mich küsste, spürte ich etwas in mir erwachen. Es war so schwer zu beschreiben, doch das zeigte mir nur, wie besonders dieses Gefühl war. Ich war mir sicher in Damon etwas besonderes gefunden zu haben und aus diesem Grund würde ich ihm den Kuss auch nicht übel nehmen. Dennoch mussten wir mal dringend über unseren Beziehungsstand reden. Nichts hasste ich mehr, als nicht zu wissen, wo ich bei bestimmten Menschen stand und was sie von mir dachten.

Ich erinnerte mich an Damons unergründlichen Blick, als ich mich an die Wand des Zuges lehnte und nach draußen in die Dunkelheit starrte. Meine Mutter hatte eine bestimmte Zutat für einen Kuchen, den sie unbedingt mal wieder backen wollte, vergessen. Deshalb hatte ich mich bereit erklärt sie zu holen. Leider gab es sie ausschließlich in einem bestimmten Laden, der für mich nur durch den Zug erreichbar war.
Was man nicht alles tat, um seine Eltern glücklich zu machen.

Ab und zu erkannte ich die Silhouetten einiger großer Bäume, die direkt an den Gleisen gepflanzt wurden. Hier und da vielleicht ein paar Lichter, aus beleuchteten Häusern. Doch im Großen und Ganzen war da nichts. Nichts als Dunkelheit.
Wie ich sie hasste. Ich tendierte zu den Menschen, die extrem paranoid im Dunklen wurden. Die, die hinter jedem Schatten einen Vergewaltiger oder Dieb vermuteten.

Noch vier Stationen. Drei, die der Zug schnell erreichen würde und eine, die unfassbar lang war.

Der Zug hielt. Eine Gruppe Männer stieg in das Abteil. Sie waren laut, wahrscheinlich betrunken.

Nach der langen Station müsste ich dann nur geradeaus laufen. Vielleicht 200 Meter.

Die Männer riefen und sangen irgendwelche Lieder die ich nicht kannte. Andere Menschen sahen sie genervt an. Der Zug hielt wieder und  leerte sich merklich. Die Menschen hatten keine Nerven für solch penetrante Personen.

Diese 200 Meter, die ich zurücklegen müsste, würden auch beleuchtet sein. Und meistens waren -auch um diese späte Zeit- noch Menschen unterwegs.

Einer der Betrunkenen schielte in meine Richtung. Ich tat, als würde ich es nicht mitbekommen und betrachtete stattdessen die düstere Umgebung.
Er kam langsam und torkelnd auf mich zu, dabei hatte er einige Stufen zu erklimmen, was ihm sichtlich schwer fiel.

Bitte, bitte, bitte setz dich nicht neben mich.

Doch keine Chance! Obwohl das gesamte Abteil leer war, platziere er sich wie selbstverständlich direkt mir gegenüber. Wir starrten uns gegenseitig an.
Ich tat es, um die Gefahr, die von ihm ausging, abschätzen zu können, weshalb er mich so betrachtete, war mir unklar und um ehrlich zu sein, wollte ich nicht darüber nachdenken.

Dieser Blickkontakt wurde mir schnell sehr unangenehm, weshalb meine Augen versuchten in der Finsternis Gegenstände auszumachen. Meine Kehle schnürte sich zu und ich fühlte mich bedrängt. Gleichzeitig wusste ich, dass wenn die anderen Männer dazustoßen würden, ich absolut in der Falle säße.

Der Mann lehnte sich zu mir vor, so, dass seine Beine gegen meine stießen. Ich zog die Luft, die sich in meinen Lungen gesammelt hatte, scharf aus, als er seine Hand auf meine Oberschenkel legte und in kreisenden Bewegungen über sie fuhr.
Ich wollte mich bewegen, wollte schreien, doch ich war wie gelähmt. Ich hatte Todesangst. In meinen Kopf spielten sich die grausamsten Szenarien ab.

Nun stand der Mann auf und setze sich neben mich. Er strich mir über die Arme und flüsterte ganz leise: „Du bist so heiß."

Ich fröstelte.

Gaps in my HeadWo Geschichten leben. Entdecke jetzt