Ich wollte mich vorlehnen, um ihn einen Kuss auf die Lippen zu drücken, als ich im Augenwinkel Mary durch den Flur laufen sah. Sie hatte ihren Gang beschleunigt, um nicht von uns erkannt zu werden, doch so wie ich, konnte sie sich nicht gut verstecken. Sie musste verdammt wütend auf mich sein. Immerhin hatte ich mein Versprechen nicht eingehalten und sie wieder links liegen gelassen. Ich war wirklich schlimm.
Auch wenn ich Damon abgöttisch liebte, konnte ich nicht immer wieder meine Freunde für ihn im Stich lassen. Auch mit Lara hatte ich lange Zeit nicht mehr geredet. Ich hatte mit meinen Freundinnen, die mich immer unterstützt hatten und mich besser als jeder andere kannten, dringend etwas Nachholbedarf. Ich musste damit anfangen, Mary von meiner Krankheit zu erzählen. Das hatte ich immer wieder aufgeschoben und nun war es mir inzwischen peinlich, dass sie immer noch nichts davon wusste.
„Ich muss kurz mal etwas erledigen.", verabschiedete ich mich schnell von Damon und drückte ihn einen kurzen Kuss auf den Mund. Er antwortete mir, ich konnte ihn aber nicht mehr verstehen, denn ich war inzwischen schon den halben Flur runtergesprintet, in der Angst, Mary aus den Augen zu verlieren und dann doch einen Rückzieher zu machen.
„Mary!", rief ich mit erhobener Stimme. Einige Schüler, die vor Klassenzimmern standen, schauten auf und musterten mich neugierig. Auch Mary drehte sich um. Aber ihr Gesicht sah alles andere als forschend aus. Viel eher wirkte es undurchdringlich. Als sei ich es nicht wert, dass sie mir ihre Emotionen zeigte. Was hatte ich nur angerichtet?
„Was willst du?", fragte sie mit ruhiger, monotoner Stimme. Es wirkte, als würde sie mich abhandeln wollen, wie einen lästigen Vortrag in Biologie über das Thema „Räuber-Beute-Beziehung zwischen Hecht und Kapfen". Ich wurde immer verzweifelter.
„Ich will mich entschuldigen."
Ihr Gesicht veränderte sich bei den Worten nicht. Als würden sie einfach an ihr abprallen und sie nicht bewegen. Mich verletzte ihr kühles Verhalten.
„Aha.", antworte sie mit ausdrucksloser Miene. Sie sah an mir vorbei und es wirkte fast so, als wäre die hässliche, graue Wand unserer Schule interessanter als ich. Ich spürte, dass ich mich weiter bewegen musste, wenn ich sie nicht verlieren wollte. Ich musste ihr mein Geheimnis anvertrauen, auch wenn es mir furchtbar schwer fiel die richtigen Worte zu finden. Gab es überhaupt so etwas, wie richtige Worte, wenn man seiner besten Freundin von der Erkrankung erzählen wollte?
„Ich muss dir etwas sagen.", begann ich zögernd. Meine Unsicherheit musste mir ins Gesicht geschrieben sein, denn kurz sah ich eine überraschte Bewegung über Marys Gesicht huschen. Doch sie war genau so schnell weg, wie sie gekommen war und ließ mich ratlos vor mich hinstarren.
„Also?", ich fühlte mich wie in einem Verhör. Mary war die Polizistin, die mich wegen eines Verbrechens ausfragte und sich nichts sehnlicher wünschte, als mich heute noch hinter Gittern zu sehen.
„Wir beide hatten in letzter Zeit einfach nicht so viele gemeinsame Anhaltspunkte. Wir haben viel aneinander vorbei gesprochen.", ich wollte mich dafür rechtfertigen, dass ich ihr noch nichts von meiner Erkrankung berichtet hatte. Als ob das irgendetwas besser machen würde.
„Das war nicht meine Schuld.", ich sah sie an und glaubte einen Funken Hass in ihren Augen zu sehen. Langsam fühlte ich mich gekränkt. Ich versuchte doch ganz offensichtlich unsere Differenzen aus dem Weg zu schaffen. Wieso machte sie es mir so schwer?
„Wir waren beide nicht die perfekten Freundinnen.", meinte ich zähneknirschend und dachte an die vielen Szenen, als Mary entweder ignorant und fies zu mir oder indirekt zu Damon gewesen war. Sie hatte sich ebenfalls geändert. Diese Hochnäsigkeit, die sie jetzt den Tag legte, passte gar nicht zu ihr und sie machte mich verdammt wütend.
„Hmm.", war die kurze, sinnfreie Antwort.
Ich atmete tief durch und versuchte meinen Ärger über ihr Verhalten runterzuschlucken.
„Eigentlich wollte ich dir nur von etwas berichten."
„Was? Hat Damon mit dir Schluss gemacht? Hat er gesehen, wie du Kyle geküsst hast? Das muss ja wirklich furchtbar für dich sein!", ihre Stimme war geprägt von einem harten Sarkasmus. Wenn bis eben ihre Abneigung mir gegenüber nicht spürbar gewesen war, konnte man spätestens jetzt quasi nach ihr greifen. Was hatte ich getan, das sie so sehr verärgerte? Sie hatte also den Kuss zwischen Kyle und mir gesehen? War das der Grund für Ihre Wut auf mich?
„Mary... ich habe mich eben verändert."
„Ja das hast du, aber nicht zum Guten.", die Worte brannten wie Feuer auf meinem Stolz und hinterließen ein zerstörtes Ego, welches lauthals nach Rache schrie.
„Meine Güte! Was ist denn mit dir los?! Du hast dich mindestens genauso verändert!", ich schrie fasst vor Empörung. Die Zeit der inneren Ruhe war nun endgültig vorbei.
„Das mag ja sein. Aber ich habe meine Freundinnen nie im Stich gelassen. Ich war, auch wenn ich Damon nicht mag, immer für dich da! Ich habe dich unterstützt!", zischte sie animalisch zurück.
„Worauf willst du hinaus?", fragte ich auffordernd und schoss Blitze aus meinen Augen.
Auf einmal veränderte sich ihre Stimmung. Sie sah mich für einige entsetzlich stille Sekunden ruhig an. Dann pustete sie die aufgestaute Luft aus ihrem Körper und schaute mit gläsernen Augen auf.
„Wann hast du mich das letzte Mal gefragt, wie es mir geht?"
Was für eine blöde Frage, dachte ich. Ich war schließlich ihre Freundin. Ich sorgte mich immer um sie. Ich wollte etwas darauf erwidern, doch urplötzlich wurde mir bewusst, dass ich es nicht konnte. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Hatte ich sie wirklich nie gefragt, wie es ihr ging? Hatte ich irgendwann aufgehört diese simple aber doch elementare Frage zu stellen?
„Du findest keine Antwort darauf. Wie auch? Du hast mich ja nie gefragt! Aber da tun Freundinnen. Sie fragen einander, ob es ihnen gut geht, sie reden über Probleme des anderen und versuchen eine Lösung darauf zu finden. Verstehst du? Das ist dein gottverdammter Job als Freundin!", sie sah unendlich traurig aus. Jetzt sah ich, was ich ihr mit meiner Distanzierung eigentlich angetan hatte. Erst jetzt wurde mir das Ausmaß an den Fehlern, die ich gemacht hatte, bewusst. Ich war so in Selbstmitleid versunken, dass ich ganz vergessen hatte, dass meine Freundinnen auch nur Menschen waren. Menschen die Liebe und Aufmerksamkeit brauchten. Jemanden, der sie stürzte. Ich fühlte mich miserabel.
„Mary...", flüsterte ich mit schwacher Stimme.
„Nein Aria. Du hast mich im Stich gelassen. Und das mehr als nur einmal. Eigentlich seitdem du Damon kennengelernt hast. Ich existiere in deiner Welt nur ab und zu. Als Mitläufer. Aber ich kann ja froh sein, wenn ich mit der Freundin des beliebten Footballspielers mal ins Kino gehen darf.", wirkte ich wirklich so auf sie? War ich tatsächlich solch ein Mädchen geworden? Verdammt, ich wollte immer so viel besser sein als diese dummen Hühner.
„Und dann entschuldigst du dich bei mir. Viel zu spät und eigentlich nur, weil du mir von einem weiteren Problem in deinem Leben erzählen willst. Aber weißt du was? Das will ich nicht hören! Sprich darüber mit Damon oder Kyle oder wie sie alle heißen. Ich will und kann das einfach nicht mehr.", sie wollte sich umdrehen, wollte mich einfach so stehen lassen. Völlig verzweifelt und voller Selbsthass. Doch dann überlegte sie es sich anderes und drehte sich nochmal um. Eine Träne sickerte über ihre Wange und ließ mein Herz furchtbar schmerzen.
„Meine Eltern haben sich übrigens scheiden lassen. Das wüsstest du, hättest du mich einmal gefragt, wie es mir geht.", und dann ging sie endgültig und ließ mich gebrochen und unendlich traurig stehen.
Am liebsten wäre ich ihr hinterher gerannt und hätte sie angefleht, mir zu verzeihen. Vielleicht hätte ich es sogar getan, wenn in diesem Moment nicht ein lauter Schluchzer über meine Lippen kam und mich am ganze Körper schaudern ließ.
Der Schmerz, den ich jetzt empfand, war schlimmer als ein gebrochenes Herz. Denn nicht nur das war nun kaputt. Es war viel eher so, dass meine gesamte Existenz ineinander zusammenbrach und mich furchtbare Schmerzen erleiden ließ. Ich hatte mich noch nie so einsam gefühlt, wie in diesem Moment.
Ich hatte meine beste Freundin verloren.

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Gaps in my Head
Teen FictionInhaltsangabe: Wie wäre es, jeden Abend mit der Angst einzuschlafen, am nächsten Tag aufzuwachen und sich nicht mehr an den Vortag erinnern zu können? Wie wäre es, das Gefühl zu haben, man hätte Lücken in seinem Kopf? Das ist der Alltag von Aria...