Es kam mir wie eine Ewigkeit vor, wie wir da saßen, ich in die Enge gedrängt und voller Angst, er an mich gelehnt, immer eine Hand auf meiner Haut. Ich wollte aus meiner Starre erwachen. Ich wollte seine Hand wegschlagen, doch ich war wie gelähmt.
Wenn ich doch zumindest „nein" hätte sagen können. Wenn ich ihm non-verbal mitteilen könnte, dass ich hasste, was er da tat. Doch wie sagte man einem Mann, der doppelt so groß war, wie man selbst, dass er das, was er da tat, lassen sollte? Zusätzlich war er absolut betrunken.
Vielleicht war er normalerweise eine freundliche Person. Vielleicht hatte er eine Freundin, oder war sogar verlobt. Doch von dieser normalen Person war absolut nichts übrig geblieben.„Wollen wir irgendwo hingehen, wo wir ungestört sind?", er formulierte es als Frage. Als hätte ich eine Wahl dies zu bestimmen.
Ich sah ihn mit großen Augen an und merkte, wie meine Lippen anfingen zu beben.Der Zug steuerte die nächste Haltestelle an.
Bitte, bitte steig jetzt aus!
Nun lief ein anderer Mann der Gruppe auf uns zu. Sein Gang war fest und sein Blick klar. Er hatte wohl nicht so viel getrunken.
„Jack, wir müssen jetzt gehen. Das ist unsere Station."
Der Mann namens Jack tat so, als würde er seinen Freund nicht hören. Stattdessen fuhr er mit seinen Fingern über meine Wange.
Der andere Mann wurde langsam ungeduldig. Er packte Jack grob am Arm.
„Das reicht jetzt!", meinte er bestimmt.
Jack entriss sich wütend seinem festen Griff und bevor irgendjemand reagieren konnte, boxte er ihm mit seiner Faust ins Gesicht. Das Hieb war so kräftig, dass ich wahrscheinlich auf der Stelle zusammengeklappt wäre, doch der Mann nahm diesen Angriff gelassen. Zwar wurde sein Blick kurz ein wenig unklar, doch er fasste sich schnell wieder. Er packte Jack -diesmal kräftiger- am Kragen und schubste ihn anschließend den Gang entlang. Kurz drehte er sich noch einmal zu mir um und suchte wohl nach irgendwelchen Verletzungen.
Ich war mir sicher, dass er nichts finden würde und dennoch wusste ich gleichzeitig, dass etwas kaputt gegangen war. Etwas, dass niemand sehen aber ich umso mehr fühlen konnte.Den Rest der Fahrt nahm ich nur verschwommen wahr. Ich stand unter Schock. Meine Lippen hatten aufgehört zu beben und bildeten nun einen dünnen Strich. Meine Augen ruhten starr auf dem blauen Sitz mir gegenüber, auf dem vor kurzer Zeit noch dieser Mann gesessen hatte.
Ich dachte an die Situation zurück und plötzlich ergriff mich eine Furcht, die mich verstört nach links und rechts blicken ließ.Der Zug hielt und ich konnte endlich aussteigen, konnte ihm endlich entfliehen.
Ich zückte mein Handy, wählte mechanisch eine Nummer.„Hallo? Aria, ist etwas passiert?"
Seine Stimme löste etwas in mir aus. Sämtliche Neutralität fiel abrupt von mir ab. Stattdessen sammelte sich eine große Welle von Emotionen in mir an. Ich schluchzte laut auf.
„Aria?!"
Damons Stimme wurde lauter, besorgter.
„Kannst du- kannst du bitte zu mir kommen? Ich bin an dem Bahnhof bei dem großen Einkaufsmarkt. Es ist etwas passiert...", ich keuchte.
„Bleib, wo du bist. Ich komme!"
Ich hörte ein Klimpern von Schlüsseln und anschließend eine zuknallende Tür.
„Ich bin sofort da!"
Es folgte das Brummen eines Motorrads. Damon hatte nicht aufgelegt. Ich war ihm dafür unendlich dankbar. Zwar hörte ich nur den Motor und fahrende Autos, dennoch fühlte ich mich gleich stärker.
Ich mochte es nicht, wenn Damon mit seinem Motorrad fuhr. Es war so schnell, so unkontrolliert. Jetzt kam dazu, dass es stockfinster war. Doch ich brauchte ihn. Ich war kurz vor einem Nervenzusammenbruch und er war der Einzige, bei dem ich mich vollkommen sicher fühlte.
Es dauerte keine zehn Minuten, bis ich die Scheinwerfer seines Motorrads ausmachen konnte. Ich wollte zu ihm rennen, doch ich fühlte mich so müde, so ausgelaugt. Deshalb starrte ich einfach nur in seine Richtung. Damon merkte trotz dieser großen Distanz zwischen uns, dass etwas nicht stimmte, weshalb seine Schritte immer mehr an Geschwindigkeit zunahmen, bis er fast rannte.
„Aria!", er ließ mir keine Möglichkeit ihn zu begrüßen, stattdessen zog er mich in eine feste Umarmung. Ich hatte Schwierigkeiten zu atmen, doch sie tat gut.
Er ließ von mir ab, aber nur um mich mit zusammengekniffenen Augen und einen sorgenvollen Blick zu mustern.„Was ist passiert?"
Kurz verlor ich mich in seinen Augen, aber nur so lange, bis ich mich an den Grund seines Erscheinens erinnerte.
Meine Lippen fingen wieder an unkontrolliert zu beben. Ich spürte, wie meine Augen sich mit Tränen füllten. Tränen der Verzweiflung, der Wut und der Unbeholfenheit.
Ich schaute beschämt zu Boden, in der Hoffnung, er würde meinen aktuellen Gefühlszustand nicht bemerken.Doch selbstverständlich nahm er es wahr. Es war als würde er selbst spüren, wie es mir ging, denn als er seine Finger an mein Kinn legte und meinen Kopf nach oben hebte, sah ich Schmerz in seinen Augen. Es war, als würden seine Augen meine Gefühle widerspiegeln. Und das war der Moment, an dem ich alles rausließ. Der Moment, an welchem ich auf offener Straße zusammenbrach, mit Damon als meinen Felsen in der Brandung.

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Gaps in my Head
JugendliteraturInhaltsangabe: Wie wäre es, jeden Abend mit der Angst einzuschlafen, am nächsten Tag aufzuwachen und sich nicht mehr an den Vortag erinnern zu können? Wie wäre es, das Gefühl zu haben, man hätte Lücken in seinem Kopf? Das ist der Alltag von Aria...