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Die meisten Geschichten, die ich als Kind gelesen habe, beginnen alle mit den Worten:
Es war ein mal...

Also gut, wenn wir uns danach richten, dann war es mal ein junges Mädchen, deren Herz für ihre Eltern schlug. Ebenso sehr, wie das ihre für sie. Das junge Mädchen und ihr kleiner, gerade geborener Bruder lebten glücklich mit ihren Eltern in einem Haus, welches für die junge Familie wie geschaffen war. Sie besaßen keine Sorgen und keinen Kummer, sondern bloß Zufriedenheit. Alle erfreuten sich an dem neuen Familienzuwachs, dem kleinen Austin, dessen braune Augen und schwarzes Haar dem seines Vaters glich.
Doch das bisschen Glück hielt nicht für ewig, so wie es in den meisten Geschichten der Fall ist. Die Mutter der Familie wurde schwer krank, und schnell musste sie lernen, sich an dem Krankenhausbett zu binden. Tag für Tag bangten alle um sie, hielten ihre Hand und weinten. Jegliche Lebensfreude zerfiel zu Asche.
Einige Zeit später, doch noch immer nicht über den Tod der Mutter hinweg, zog die Familie, die nun bloß noch zu dritt war, in ein neues Heim. Eine kleine Wohnung in Köln, deren Kosten nicht allzu hoch und Zimmer zu wenig waren. Der Vater ertrank seine Sorgen und den Kummer von nun an in Alkohol, da ihn dieser vergessen ließ. Doch er ließ ihn nicht nur seine verstorbene Frau vergessen, auch sein Job war nicht mehr von langer Dauer.
Arbeitslos, mit ein wenig Hartz 4, das er in Alkohol umsetzte, anstatt für seine Kinder zu sorgen, verbrachte er von nun an seine Tage bloß noch Zuhaus. Die Tochter der Familie hingegen schuftete. Sie schuftete, um allen ein bisschen Hoffnung zu ermöglichen.
Und so nimmt die Geschichte ihren Lauf...

Oder eher meine Geschichte.
Zwei Jobs, ein 5-jähriger Bruder, mein Dad aussichtslos verfangen in einer Alkoholsucht und meine Mom...na ja...sie hat vor 4 Jahren den Kampf gegen Krebs verloren.
Ob ich drüber hinweg bin?
Über so was ist man wohl nie drüber hinweg.

Das ist mein Leben. Es gibt nicht viel her, und das weiß ich auch, aber es ist alles was ich hab. Ein anderes Leben bekomme ich eben nicht, das hab ich einsehen müssen. Und ich glaube, dass ich ein anderes Leben auch nicht so wirklich will. Natürlich wäre ein Dad, der kein Alkoholiker ist, super, doch ich würde gleichzeitig keinen anderen Dad haben wollen. Ich weiß, das klingt verwirrend und wahrscheinlich auch komisch. Manchmal kann ich mich nicht so richtig ausdrücken. Was ich aber sagen will, ist:
Ich mag mein Leben.
Ja, ich arbeite hart und ich kümmere mich wie eine Mom um meinen kleinen Bruder und hab ihn quasi aufgezogen, da auf mein Dad in dem Thema kein Verlass war, und ich schlafe mit ein paar Decken und einem Kissen auf dem Boden des einzigen Schlafzimmers der Wohnung, in dem ich zusammen mit Austin lebe, und mein Gehalt reicht gerade so, um unserem kleinen Leben gerecht zu werden.
Aber ich möchte gleichzeitig auch keine Prinzessin sein, die mit Geld zugeschmissen wird. Das bin ich nicht. Ich arbeite seit meinem 16. Lebensjahr mehr oder weniger legal für mein Geld, mit dem Ich uns alle dann über die Runden bringe. Es ist genug.

Ich könnte mir mein Leben anders gar nicht vorstellen, wenn ich ehrlich bin.

"Ami..."

Mein Leben ist einfach und simple. Keine Zeit für Freunde, Beziehungen oder was, das mich von meinem Ziel abhält:
genug Geld aufzubringen, um meiner Familie ein Haus zu kaufen. Um ohne Miete zu leben.

Die paar Euros, die bisher in meiner Spardose sind, reichen dafür kaum. Bei einem Hauskauf kann man eben keine halben Sachen machen.

"AMI!"
"Herrgott nochmal, was ist denn?!"

Ich sehe zu Austin runter, dessen brauner Lockenkopf zu mir nach oben schaut. Seine großen, runden, dunkelbraunen Kulleraugen schauen genau in meine, die auch groß und braun, aber nicht so sind sind wie seine. Meine Augen sind anders. Sie ähneln mehr denen meiner Mom.

AWAKE Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt