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Manchmal ist es hart zu verstehen, was Menschen durchmachen, wenn man sich nicht in ihrem Kopf befindet. Ich meine, du weißt nie, was in dem Kopf von jemand anderem so vor sich geht. Das wirst du auch niemals wissen. Du kannst es immer nur ahnen, aber selbst dann hast du keinerlei Gewissheit, ob deine Ahnung auf der Wahrheit basiert. Ich habe es immer schon skurril gefunden - nicht zu 100% wissen zu können, was der andere denkt oder fühlt. Man muss dann darauf vertrauen, dass der andere die Wahrheit sagt, und auch das ist keine einfache Sache.
Genau deshalb ist es hart zu verstehen, was Menschen durchmachen. Man kann keinen Menschen vollkommen verstehen. Man kann in keinen Menschen hineinschauen.
Das alles kann einen ab und zu in die Irre führen.

Einen Abend später kann ich bloß sprachlos dabei zuschauen, wie T seine Runden um die Kücheninsel zieht und dabei keinen von uns anschaut. Er ist mir die letzten 27 Stunden aus dem Weg gegangen, um sich nicht ablenken zu lassen, nehme ich an, und auch jetzt lässt er sich von meiner Anwesenheit nicht beirren. Ich weiß nicht, was ich davon halten soll, aber es macht mich wütend, ihn so zu erleben. Damit meine ich nicht, dass er seine Runden durch die Küche zieht, sondern dass er mich in den letzten 27 Stunden keines Blickes gewürdigt hat.

Ich habe diese Stunden damit verbracht mit Ardy und Marley die Möbel aufzubauen und Austins Bett zu den Kartons im Wohnzimmer zu räumen, wo es nun regungslos an der Wand liegt. Außerdem habe ich den Kleiderschrank eingeräumt. Das hat eine Weile gebraucht, aber jetzt ist alles ordentlich. Wir haben nun einen Tisch zum Essen, der mich zwar immer an meine Familie erinnert, aber besser ist als diese Bierbank, und die Stühle sind auch wesentlich bequemer. Sie helfen aber auch nicht dabei T wieder ruhiger zu bekommen, denn seine Wut prallt von allen Wänden dieses Hauses ab.

"Alter, komm erstmal runter!", ruft Marley ihm zu, aber erntet keinerlei Reaktion. T streift wie ein wilder Tiger durch den Raum, rauft sich seine Haare und atmet, als wäre er soeben einen Marathon gelaufen.

"Ich komme nicht runter, verdammt!", schreit T durch die Gegend. Ich halte mich an der Tischplatte fest. Ardy's Blick, der kurz meinen streift, ist ebenso aufgewühlt wie mein eigener.

Was passiert ist?
Soeben hat T von Marley erfahren, der noch immer morgens und abends durch die Siedlung joggt, dass wieder eingebrochen wurde. Letzte Nacht. Das komische an der gesamten Sache ist jedoch, dass in zwei Häusern gleichzeitig eingebrochen wurde. Gleichzeitig.

"Ich komme mir wie in einem miesen Film vor.", sagt T und bleibt plötzlich stehen. Er stemmt seine beiden Hände auf die Arbeitsplatte der Kücheninsel und sieht seine Jungs an. Meinen Blick meidet er. "Wie hießen die Mädchen?"

"Daniel sagt, die eine heißt Lilli, 15, und die andere Rachel, 21. Rachel wohnt in diesem Reichen Viertel."

"Das Ärtzteviertel", füge ich hinzu und ernte einen komischen Blick der anderen. Selbst den von T. Ich schaue zu Boden. "So nenne ich dieses Viertel. Dort wohnen nur Leute über 20, junge, angehende Ärzte, die das Geld aber hauptsächlich von ihren Eltern bekommen."

"Kennst du Rachel?", fragt Ardy.

"Ich bin ihr bestimmt schon mal begegnet.", zucke ich mit den Schultern. Ich kann mich an keine Rachel erinnern, auch nicht an eine Lilli, aber es ist übel, wenn gleich zwei Mädchen verschwinden.

T atmet laut aus.
"Das muss aufhören.", sagt er. "Wir müssen diese Dreckskerle kriegen und herausfinden, wo sie sich aufhalten. Wollen sie diese Nachbarschaft etwa ausbeuten, bis kein potentielles Opfer mehr da ist?"

"Das wäre nicht das erste Mal, dass sie so was machen, T.", erinnert ihn Ardy. Ich sehe zwischen den beiden umher. "Weißt du noch vor zwei Jahren in Potsdam? Da sind innerhalb von zwei Wochen 7 Mädchen verschwunden und die Polizei hat sie alle nach 5 Monaten für tot erklärt, da sie keine Spur bekommen haben."

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