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Ich öffne meine Augen. Dunkelheit flutet dieses Gartenhaus wie eine riesige Welle. Meine Beine sind eingeschlafen, genau wie ich bis eben eingeschlafen war. In meinem Kopf tragen ein Teufel und ein Engel einen verbalen Kampf aus, ob ich nun aufstehen und weiterziehen oder sitzen bleiben soll. Der Teufel, der mir das Aufstehen empfiehlt, gewinnt schlussendlich.

Ich ziehe meine Nase hoch, Tränen brennen in meinen trockenen Augen. Meine Finger zittern und mein Magen ist so unfassbar leer, dass Übelkeit mich plagt wie ein schrecklicher Albtraum. Das hier ist ein schrecklicher Albtraum. Ich bin gefangen in ihm, und ich komme an keiner Stelle wieder heraus. Das Schloss quietscht beim Öffnen. Der Garten ist so schrecklich dunkel, dass ich kaum die eigenen Füße sehen kann. Meine Augen brauchen einen Moment um sich daran zu gewöhnen. Ich muss aussehen wie eine wandelnde Discokugel.
In dem Haus vor mir brennt oben ein kleines Licht. Es leuchtet blau. Es erinnert mich an das Nachtlicht von Austin, das ich extra neben sein Bett in die Steckdose gesteckt hab. Er hat sich dadurch weniger allein gefühlt, und er mochte das Leuchten...

Ich halte mir meine Hand vor den Mund, damit ich nicht laut zu weinen beginne. Ich atme tief ein und aus. Meine Finger tasten sich am Zaun entlang. Ich finde ein Tor, das ich leise öffne und wieder schließe. Die Straßen sind dunkel, nur Laternen erhellen alle paar Meter einige Punkte. In den meisten Häusern ist das Licht bereits erloschen. Mein erster Impuls ist es, zu der Hauptstraße zurück zu gehen, die wir in der Limousine entlang gefahren sind, damit ich zurück zum Eiffelturm komme, aber das wäre dumm. Ich bräuchte eine Ewigkeit dafür. Zudem suchen sie bestimmt noch nach mir. Also tue ich das Gegenteil - Ich gehe tiefer in die Wohnsiedlung hinein. Irgendwann, keine Ahnung wie lange ich gelaufen bin, aber meine Füße fühlen sich taub an, gelange ich aus der Siedlung hinaus. Ich komme an einem Feld an. Ein riesiges Feld, dahinter Weiten von Wiesen und Freiheit.
Ich gehe los. Ich hebe mein Kleid an, während meine Füße in den Acker tauchen und die Farbe zu braun ändern. Während sich meine Lunge mit frischer Luft füllt und ich Paris immer weiter hinter mir lasse, das glaube ich zumindest.

Nach einer gefühlten Ewigkeit tut mir alles umso mehr weh. Meine Füße sind so dunkel, dass ich meine eigene Hautfarbe kaum noch erkennen kann. Meine Haare haben sich komplett gelöst. Meine Augen sind müde. Sehr bald sehe ich die Sonne wieder aufgehen. Ich komme an einem Waldstück vorbei, aus dem leises Vogeltrillern kommt. Während ich gerade an einer Eiche vorbei gehe, sehe ich ein Eichhörnchen an der Rinde nach oben klettern. Ich muss lächeln, auch wenn mir alles andere als danach zumute ist.
Vor mir befindet sich ein solch enormes Ausmaß an Acker, Felder und Wiesen, dass ein Landwirt davon träumen könnte. Die orange leuchtende Sonne erhebt sich am Horizont, den ich ebenfalls sehen kann, und taucht den dunkelblauen Himmel in ein wunderschönes Licht.

Mein neues Ziel ist der Horizont.
Das, was dahinter liegt.
Und vielleicht finde ich auf dem Weg dahin etwas Essbares.

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-Tag 9-

Meine Beine sind träge, aber mein Magen ist voll. Zumindest ist er so voll, dass mir nicht mehr übel ist vor Hunger. Ich habe Maiskolben vom Maisfeld gegessen und Brombeeren gefunden. Ich hab mir den Bauch so voll gestopft wie ich konnte. Meine Hände sind rot-blau durch die Beeren, aber das ist mir egal. Auch auf meinem Kleid sind solche Flecken, wahrscheinlich auch in meinem Gesicht. Bestimmt sehe ich aus wie eine Mörderin.

Meine Füße, die bereits Blasen haben und an manchen Stellen aufgeschürft sind, berühren den sanften Asphalt einer neuen Stadt. Ich komme bei einigen Häusern an, die direkt an einem Feld grenzen, und ich könnte nicht fröhlicher darüber sein. Zivilisation.
Endlich Zivilisation.

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-Tag 10-

Ich befinde mich vor einem Müllcontainer und in einer Gasse, die nach Auswurf und Ratten riecht. Meine Augen fixieren die Bäckerei gegenüber. Vorne vor steht ein großes Schild mit der Aufschrift >pain frais, baguette et bretzel<. Ich möchte am liebsten was kaufen, aber habe kein Geld. Ich verziehe mich aus der Gasse. Mein Kleid ist mittlerweile so herunter gekommen, dass es kaum mit vorher verglichen werden kann. Meine Augen sind trüb und müde, meine Füße pechschwarz und meine Zehen dreckig wie nie. Auch unter meinen Fingernägeln haust der Dreck. An meinen Händen und Füßen haben sich die Blutergüsse dunkler verfärbt. Ich sehe wie eine Obdachlose aus.
Ich bin gerade sogar obdachlos.

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