Meine kleine Weit hat sich nach Mom's Tod immer um meinen Bruder gedreht. Immer stand er für mich im Vordergrund und ich habe mich selbst zurückgestellt, damit es ihm gut geht. Ich bin mit ihm zum Kindergarten gegangen, habe ihn hingebracht, habe ihn abgeholt, habe zwei Jobs gemeistert und ihn behütet. Ich habe immer auf ihn aufgepasst, habe ihn immer beschützt und um ihn bangen müssen. Ich habe ihn abends in den Armen gehalten, wenn er nicht schlafen konnte, und ich habe ihm Schlaflieder gesungen. Ich habe mit ihm Kinderbücher in Wartezimmern von Ärzten gelesen und ich habe mit Sockenpuppen ein Puppentheater veranstaltet, nachdem er einen Alptraum hatte und mich weinend geweckt hat.
Ich hab seine Tränen getrocknet, habe seine Windeln gewechselt, habe ihm das Sprechen beigebracht und das Laufen auch. Ich habe alles getan, damit er das beste Leben hat, das in unserem Fall möglich war.Und jetzt ist er weg.
Er ist einfach weg.
Und ich weiß nicht mehr, was ich überhaupt tun oder fühlen soll.
Ob ich das alles überhaupt ertrage, denn je weiter die Wahrheit in meinen Körper sinkt, durch mein Blut sickert und sich in meinem Herzen festsetzt, desto schmerzhafter wird das Atmen. Desto qualvoller wird das bloße Existieren.Ich spüre T's Brust an meinem Gesicht und wie sich seine Kleidung nässt. Ich weiß nicht, ob es meine Tränen sind, denn mein Gesicht ist so schmerzhaft verkrampft, dass ich glaube, meine Augen nie wieder öffnen zu können. Ich spüre eine Hand auf meinem Rücken, zudem spüre ich eine Umarmung, die von dem Mann kommt, an dem ich lehne. Ich höre die Stimmen der Menschen um mich herum, aber ich kann mich nicht auf die gesprochenen Sätze konzentrieren. Dumpfer Schmerz macht sich nicht nur in meinem Kopf breit, sondern auch tief in den Kammern meines Herzens, wo ein klaffendes Loch alles in sich einsaugt, das von dem Leben des früher so glücklichen Mädchens übrig geblieben ist. Ich fühle wie mein Körper zittert, wie ich von innen heraus bebe und vibriere und alles um mich herum in Schutt und Asche legen will, und ich spüre auch, wie der Mann an meiner Seite seine Lippen auf meinen Kopf drückt und dann seine Wange an mich lehnt. Ich spüre seine Hände, die mich noch fester in eine Umarmung ziehen, und dann merke ich nur noch wie wir uns von dem Haus wegbewegen.
Als er mich hoch hebt und auf den Beifahrersitz seines Autos setzt, klammere ich mich an ihm fest und will ihn nicht loslassen. Meine Arme umschlingen seinen Körper und meine Fingernägel vergraben sich in seinem Rücken. Er atmet flach aus, das Kinn streift meine Schläfe, und meine Wangen sind so rau und trocken und sie brennen fürchterlich. Meine Nase sitzt zu. Meine Glieder fühlen sich schwach an und ich mich gebrechlich. Ich fühle mich leer.
"Baby, alles wird wieder gut. Wir finden ihn. Wir holen ihn zurück, das verspreche ich dir hoch und heilig.", sagt er. Seine Stimme dringt zwar zu mir durch, doch alles in meinem Kopf schreit nach dem verzweifelten Zusammenbrechen.
Zu existieren fällt mir plötzlich unglaublich schwer.
Einfach nur zu existieren, da zu sein, auf dieser Welt ein Leben zu führen - das alles fällt mir gerade so schwer, dass es mich nur wieder zum Weinen bringt.Krächzende Laute verlassen meine Kehle, die Anfangsbuchstaben von Worten, an deren Formulierung ich jedoch scheitere, und das Gemurmel endet in einem erneuten Schluchzen, das bei ihm eine Gänsehaut auslöst. Er hebt seinen Kopf, sodass er mir in die Augen sehen kann. Bei dem Anblick des Augenblaus steigen wieder neue Tränen in mir hoch. Ich zucke zusammen, Schluckauf ertönt aus meinem Mund und Wasser tropft auf meine Beine runter.
"Ich weiß", sagt er. Seine Hände umfassen mein Gesicht und streicheln meine Wangen, wischen die immer wieder neu kommenden Tränen davon, die er kurzerhand auch noch wegzuküssen versucht. "Ich hab mich auch so gefühlt. Ich weiß, wie es sich anfühlt. Es ist der schlimmste Schmerz, den ich je durchgemacht habe."
"I-Ich-", Schluckauf. "Ich kann...k-kann ni-i-ic-ch-t"
"Ich weiß, Am. Ich weiß." Er drückt sich wieder an mich. Seine Arme umschlingen meinen Körper und er umarmt mich als sei es das letzte, was auf der Welt noch gegen Kummer helfen könnte. Er umarmt mich als sei ich seine Medizin, und nicht er meine.
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AWAKE
FanfictionDas Leben kann einen Menschen in die Knie zwingen - das musste Amani schnell feststellen. Mit ihren zwei Jobs versucht sie seit Jahren den Rest ihrer Familie über Wasser zu halten. Freizeit ist für sie eine Seltenheit und ihren Vater noch nüchtern z...