••BONUSKAPITEL 3: "Bist du einsam?"••

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Ich hasse es.
Ich hasse es, hier zu sitzen, und ich hasse es ihn zu sehen. Seine blauen Augen sind eine Tortur für mich, seine alleinige Anwesenheit eine Qual, denn ich will hier raus und er lässt mich nicht gehen. Ich weiß nicht, was mit meinem Bruder ist. Ob er bei meiner Tante an mich denkt, ob er schläft, Luft bekommt oder überhaupt glücklich ist. Ich hab meine Großmutter lange nicht mehr gesehen, und ich sterbe bei dem Gedanken, dass sie glaubt, er und ich seien zusammen.
Als könnten er und ich jemals zusammen sein.

Bei diesem neuen Gedanken kriege ich das Kotzen, auch wenn es mich reizt. Es reizt mich auf eine ganz bestimmte Weise.
Was ist aus mir geworden?
Ich tue ja gerade so, als könnte er überhaupt was für irgendwen außer sich selbst empfinden...

Ich gehe die Treppe von oben nach unten hinunter. Im Flur oben habe ich gesehen, dass seine Tür offen steht. Durch die Fenster kommt kein Licht, es ist Nacht. Unten aber brennt in der Küche das Licht hell und klar. Meine nackten Füße auf kalten Fliesen, leise gehe ich in den Raum, der für die Präsenz von uns beiden prompt zu klein wird. Sein Ego und er sitzen auf der Arbeitsplatte, die Augen starren zum Flur und liegen direkt auf mir, da ich durch die Tür zum Flur hinein komme.
Sein Mund öffnet sich, aber die ersten paar Sekunden kommt kein Ton hinaus.
Ich sehe ein bisschen zu lange auf seine vollen Lippen.

Beherrsch dich, Amani!

Aber auch er sieht mich an. Man könnte meinen, dass er das zu lange tut, doch er sieht nicht weg. Seine Augen beobachten mein Muskelspiel. Wie ich zu der Kücheninsel gehe und mich darauf setze.

"Was tust du hier unten?", fragt er mit seiner tiefen Stimme, die in der stillen Nacht wie ein Schlaflied klingt. Seine Augen, dunkel, die Pupillen riesig, sehen mich intensiv an.
Sein Blick brennt.

"Was tust du hier?"

Er lacht kurz auf, dann kehrt er zu seiner ernsten Aura zurück. Dieses Gehabe, keiner könnte ihm etwas anhaben oder tun. So als sei er der Boss von allem und jedem.

"Ich bin einfach nur wach.", sagt er. "Mehr nicht."

Mir kommen Jerome und Zach in den Sinn.
Ist er wach wegen ihnen?
Was hat es mit ihnen genau auf sich?

"Du lügst"

"Woher willst du das wissen, Prinzesschen?", nickt er mir zu. Ich sehe mir seine Tattoos in dem gelben Licht an. Wie sie leuchten, wie die Muskeln darunter in Bewegung gesetzt werden. "Studierst du mich?"

"Sicher nicht"

"Dann hast du keine Ahnung, was du da sagst."

Ich rolle die Augen und folge seinem Blick in den Flur. Durch das Fenster gegenüber kann man die Straße vor dem Haus sehen. Die Laternen bieten ein gutes Licht. Alles da ist still, schweigend und leer.

"Du wartest auf etwas."

"Red keinen Scheiß, ich kann einfach nicht schlafen, das ist alles."

"Nein-", sage ich und schaue kurz zu ihm. Sein Blick liegt noch immer auf der Straße. Seine Augen wandern hin und her, so als würde er von hier aus nach etwas Ausschau halten. "Du wartest auf etwas, deshalb sitzt du hier."

"Bist du immer so nervig?"

"Keine Ahnung", antworte ich ihm. Ich hole zum Rückschlag aus. "Bist du immer so ein Arschloch?"

Sein Kopf fliegt zu mir, in meine Richtung. Ich hebe meine Beine auf die Insel und setze mich in einen Schneidersitz. Meine Hände stützen meine Wangen ab, meine braunen Augen sehen ihn mit einem mehr als nur lieben Blick an, bloß um ihn zu nerven.

"Du bist unerträglich.", stöhnt er auf. Er springt von der Arbeitsplatte, rauft seine Haare und geht in den Flur. Bevor er um die Ecke verschwindet, habe ich noch etwas einzuwenden.

"Bist du einsam?"

Er bleibt stehen. Ich sehe ihn atmen, wie seine Schultern sich heben und senken, und dann dreht er sich wie in Zeitlupe zu mir um. Seine blauen Augen sehen mich durchdringend und stechend an.

"Wie bitte?"

"Bist du eigentlich einsam?"

"Nein", sagt er kalt.

"Wieso nicht? Du sitzt nachts hier, deine Freunde sind nicht unbedingt angetan von dir, du sperrst Menschen ein, damit du Gesellschaft hast, und du scheinst nicht viel mit deiner Familie in Kontakt zu stehen, sonst würde man das ja wohl mitbekommen...also...."

"Du weißt einen Scheiß über mich.", sagt er schroff. "Ich bin nicht einsam. Und weißt du, wieso? Weil mir andere Menschen egal sind. Ich lechze nicht nach Aufmerksamkeit oder Liebe wie du."

Dann geht er.
Und ich bleibe still und schweigend unten sitzen.

× × ×

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