Als wir wieder Zuhause ankommen, erwartet uns etwas, mit dem wir nicht gerechnet haben. Besonders ich habe nicht damit gerechnet. Nachdem ich die Wohnung aufgeschlossen habe, wir hinein getreten sind, merke ich bereits, dass etwas anders ist.
Und dieses etwas sitzt am Holztisch neben der Küche, sieht uns vorwurfsvoll an und tippt mit den langen Fingernägeln auf der Tischplatte herum. Ich sehe zum Sofa rüber - mein Dad ist weg."Tante Gabi!", ruft Austin sofort aufgeregt. Er rennt zu der Frau, die mich vor einiger Zeit beleidigt hat und seitdem nicht mehr gut auf mich zu sprechen ist. Ich bin auch nicht gut auf sie zu sprechen. Wir ignorieren uns quasi dauerhaft und unterhalten uns nie, wenn wir uns denn dann mal sehen.
"Hallo", sagt sie ausdruckslos zu mir, bevor sie dann Austin mit einem breiten Lächeln im Gesicht empfängt, hochhebt und umarmt. Sie drückt ihn an sich, als sei er das letzte bisschen Leben in dieser Wohnung.
"Wo ist unser Dad?"
"Weg", sagt sie bloß, da schnelle ich bereits hervor und stelle mich vor ihr. Bäume mich auf. Tue alles, damit sie merkt, dass mit mir in dem Thema nicht zu scherzen ist. "Spiel dich nicht so auf, ich habe ihn in ein Krankenhaus gebracht."
"Eine Krankenhaus" Mein Herz setzt aus. Tränen drängen sich hinter meinen Augen hervor, kämpfen sich an die Oberfläche. "D-Du hast-"
"Ich hab ihm das gegeben, was er braucht. Einen Entzug. Ich hab ihn gestern auf dem Boden vor dem Fernseher gefunden. Er war nicht einmal mehr ansprechbar."
"Ich-"
"Ich weiß, dass du da nichts für kannst.", sagt sie monoton, während sie Austin auf ihren Schoß setzt. "Ich hab mir etwas Geld von der Bank geliehen. Er befindet sich seit gestern im Krankenhaus, wo sie ihn ausnüchtern, und kann direkt danach in die Entzugsklinik."
"Du hast dir Geld von der Bank geliehen?" Meine Hände verstecken mein Gesicht von der blonden, kurzhaarigen Frau, deren Brille tief auf ihrer Nase sitzt und braune Augen mich anschauen, als würde ich nichts in meinem Leben auf die Reihe bekommen.
"Ich will dir nicht vorwerfen, dass du das schon vor Jahren hättest machen können. Du bist ja erst 19. Aber euer Vater braucht dringend Hilfe und ich weiß, dass du ihm diese Hilfe niemals hättest geben können."
"Wieso unterstützt du ihn erst jetzt? Wieso hast du das nicht schon Jahre zuvor getan? Als ich vorne und hinten nicht wusste, wie ich all das hier bezahlen soll?"
"Weil ich auch finanzielle Schwierigkeiten und ein Leben habe, das ich bewältigen muss, in Ordnung?", schüttelt sie nun ihren blonden Kopf. Austin sieht mich mit seinen runden Augen von ihrem Schoß aus an. Ich atme tief ein und aus. Ein. Aus. Ein. "Und ich nehme Austin mit mir mit."
AUS."WA-"
"Du kannst dich nicht auch noch um Austin kümmern."
"Ich hab mich die letzten 4 Jahre um ihn gekümmert!"
Lachend tippt sie wieder mit ihren perfekt manükierten Nägeln auf dem Holz herum. Mein Herz schlägt mir bis zum Hals. Ich würde sie gerade am liebsten eigenhändig umbringen oder vom Balkon stürzen.
"Wie viel verdienst du im Monat?"
"Etwa 850"
"Und wie viel bezahlst du für die Miete?"
"600"
"Steuern?"
"Worauf willst du hinaus?""Ich will dir gerade weiß machen, dass dein Geld vorne und hinten nicht reicht! Du brauchst Hilfe, Amani."
"Ich brauche keine Hilfe."
Doch, tue ich. Ich würde aber auch lieber sterben als zugeben zu müssen, Hilfe zu brauchen."Doch, die brauchst du." Sie setzt Austin auf den Boden, steht dann auf. Sie sieht zu mir runter, als sei ich einfach nur ein hoffnungsloser Fall. "Ich nehme Austin vorübergehend mit zu mir. Er braucht eine erwachsene Person, die genug Lebenserfahrung, einen geregelten Alltag mit einem guten Job hat und auf ihn aufpassen kann."
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AWAKE
FanfictionDas Leben kann einen Menschen in die Knie zwingen - das musste Amani schnell feststellen. Mit ihren zwei Jobs versucht sie seit Jahren den Rest ihrer Familie über Wasser zu halten. Freizeit ist für sie eine Seltenheit und ihren Vater noch nüchtern z...