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Mit T unterwegs zu sein hat etwas an sich, das man nicht ganz erklären kann. Ich kann mir ihn nicht erklären. Er redet nicht mehr viel, seit wir aus dem Haus gekommen sind. Er schweigt, doch sein Schweigen ist beunruhigend und lässt mein innerliches Feuer bloß noch weiter auflodern. Je weiter er still bleibt und desto mehr er sich vor mir verschließt, desto mehr möchte ich ihm neue Anschuldigungen vorwerfen und ihm sagen, was ich eigentlich von ihm halte.
Gott, wenn er so schweigsam ist und mich mit seinen Blicken verurteilt, möchte ich ihn sogar noch immer für den Moment anschauzen, in dem er Austin gegenüber so aufdringlich war.
In dem Moment habe ich ihn verabscheut.

Wir stehen unten vor dem riesigen Wohnhaus, in dem viel zu viele Familien wohnen. Viel zu viele Leute hausen Wand an Wand, viel zu viele von ihnen haben keine Kohle und wenig Mut, um einen Schritt aus ihrer Komfortzone zu wagen. Aber wem mache ich was vor? Ich wage mich selbst doch auch nicht wirklich aus meiner Komfortzone hinaus. Immerhin versuche ich, T noch immer zwanghaft in Schubladen zu stecken, nur um seine Persönlichkeit einordnen zu können, und beschwere mich dabei über die Leute, die genau das bei anderen Menschen machen.

Ich bin schrecklich verkorkst.

Es fängt an zu regnen. Die Wassertropfen fallen vom nun grauen Himmel hinunter. Erst treffen sie leicht auf meine Haut, doch dann fester, und schon bald regnet es im wunderbaren Deutschland wie eh und je. Das Wetter hier überrascht mich nicht mehr wirklich. Wie gerne würde ich am Strand sein, irgendwo in Malibu. Ich wäre gerne in LA. Ich wäre gerne überall, doch nicht hier, wo engstirnige Menschen von engstirnigen Menschen beleidigt werden. Wo die Politik die größten Töne spuckt, aber doch nichts ändert. Wo die Leute aneinander vorbei gehen, auf den Straßen, und sich nicht mal mehr eines Blickes würdigen, weil alle in dieser Großstadt zu viel Stress in ihren Leben haben, um zu bemerken, dass das Ganze hier schneller vorbei sein kann, als man denkt.
Weiß ich denn, wo ich morgen bin und ob ich überhaupt noch atme? Nein.
Werde ich das je wissen? Nein.
Und das ist das Problem. Alle hier in dieser Stadt, in diesem Ort, tun immer so als wäre das Leben unendlich und der morgige Tag ein Versprechen. Ich selbst erlaube mir ja auch oft einfach so zu tun, als könnte ich nicht jeden Moment aus meinem Leben gerissen werden. Ich selbst denke ja auch ständig, mein einseitiges Leben nimmt keine Wendung.
Und dann taucht meine Tante auf und diese Typen ziehen in die Nachbarschaft und hauen dabei alle meine Gedanken, Emotionen und Vorstellungen der Zukunft mit einem Hammerschlag in Millionen Einzelteile.

T nimmt meine Reisetasche und hebt sie vom Boden auf. Ich habe gar nicht bemerkt, sie überhaupt abgestellt zu haben. Seine Augen scannen meine Mimik für einige Sekunden, dann sieht er mit angespanntem Kiefer zu dem Kiosk rüber, der sich unten am Haus befindet. Ich folge seinem Blick, achte dabei aber auf ganz andere Dinge als er. Kaum bin ich ein paar Tage weg, kommt es mir so vor, als wäre ich einige Jahre fort gewesen. Abbigail hat jetzt ein leuchtendes Neonschild im Fenster hängen, auf dem geöffnet steht. Innen leuchtet die Deckenlampe, da der graue Himmel das Sonnenlicht abschirmt. Abbigail selbst wandert in dem Laden herum. Ich kann sie durch die Fensterfront sehen.
Ich frage mich, ob meine Cap und mein Namensschild noch immer an dem für mich reservierten Haken in der Küche hängen, obwohl mein Job gekündigt wurde. Ob Abbigail noch immer den Kindern des Wohnhauses Lutscher schenkt, wenn sie im Kiosk vorbei schauen, so wie sie es immer mit Austin gemacht hat? Selbst bei mir hat sie Ausnahmen gemacht, obwohl ich kein Kind mehr bin.

Es ist absurd, dass ich mich so etwas frage. Natürlich macht sie das noch, schließlich ist sie Abbigail - die liebste und zuvorkommendste Frau, die mir jemals begegnet ist. Das hatten sie und meine Mom gemeinsam. Sie hatten viel gemeinsam. Abbigail ist mit mir oft Mom's Grab besuchen gefahren, nachdem Mom starb. Sie hat Austin und mich Sonntags abgeholt, bevor wir hierher zogen, und ist mit uns eine halbe Stunde lang zu dem Friedhof außerhalb gefahren, damit wir sie besuchen konnten. Der Friedhof ist in der Gegend, in der meine Großmutter wohnt. Es hat mir Trost gespendet, ihr jede Woche neue Blumen aufs Grab legen zu können. Ich habe ihr jede Woche Tulpen gekauft. Gelbe. Immer gelbe Tulpen, da Gelb ihre Lieblingsfarbe war. Austin hat mal ein Spielzeugauto dort gelassen, damit Mommy ein Andenken an ihn hat, doch die Woche darauf war das Auto weg und ich sagte meinem kleinen Bruder, dass Mommy das Auto mit in den Himmel genommen hat, um es Gott zu zeigen, damit er nicht weint, weil irgendein selbstsüchtiger Vollarsch das Spielzeugauto meines Bruders von einem Grab geklaut hat.
Abbigail hat uns damals auf die freie Wohnung in dem Wohnhaus aufmerksam gemacht, also sind wir dorthin gezogen. Sie wusste nicht viel von Dad, da er in ihren Augen nach Mom's Tod nur noch die Hülle eines gebrochenen Mannes verkörperte. In ihren Augen war er kein Kämpfer, kein Soldat, kein Familienvater, dem seine Kinder am wichtigsten waren. Sie kannte ihn nicht gut, sie kannte nur meine Mom ziemlich gut. Wahrscheinlich kannte Abbigail Mom sogar besser als mein Vater.
Sie bat sogar mal an, uns bei sich aufzunehmen, da sie dem Vermögen meines Vaters, sich um andere zu kümmern und einen kleinen Jungen groß zu ziehen, nicht traute. Ich wollte das nicht. Es war selbstsüchtig, aber ich wollte nicht eine noch weiter zerrüttelte Familie.
Jetzt, wo ich sie in ihrem kleinen Kiosk stehen und die Kasse zählen sehe, frage ich mich wie es wohl gewesen wäre, wenn ich ihr Angebot zugelassen hätte. Wahrscheinlich würden wir dann in ihrem schönen Haus wohnen, das in einer ruhigen Ecke dieser wilden Stadt steht und schöner eingerichtet ist, als alle anderen Häuser in der Umgebung. Wir hätten täglich warme Mahlzeiten und volle Bräuche. Ich bräuchte nur einen Job, um ihr finanziell etwas Geld beizusteuern, und nicht zwei. Austin würde jeden Morgen von ihr mit einem Auto zum Kindergarten gefahren werden und hätte nicht mehr mit ewig nasser Kleidung und einem morgendlichen Sprint zu kämpfen, da seine Schwester wieder die Zeit vergessen hat.
Und vorallem wäre er jetzt nicht bei unser bekloppten Tante, die einen immer mit ihren wilden Augen anguckt, als wolle sie zwanghaft Leben verbessern.

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