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T.

Ich. Sie. Der Beginn eines neuen Tages, der über unsere Köpfe hinweg hinein bricht. Der Sonnenaufgang, der langsam aber sicher alles hier in ein schönes Licht taucht.

"Noch ein Grund um mit dir zu kommen. Ich lasse nicht zu, dass dir irgendwer etwas an tut."

Sie steht auf und will los, aber ich halte sie zurück. Wenn sie jetzt dort mit hinein geht, dann könnte ich mir das alles nie wieder verzeihen. Ich kann mir bereits eine Vielzahl an Dinge nicht verzeihen, aber das würde ich nicht ertragen. Ich will nicht, dass sie diese furchtbaren Dinge sieht, die sich folglich in das Gedächtnis brennen und Träume heimsuchen. Ich selbst hab früher Albträume gehabt, in denen ich nur diese Dinge gesehen habe.

"Du kannst nicht mit rein. Bitte, bitte bleib hier und warte auf Ardy und Marley. Sie sind bald hier, versprochen."

Ich streichle ihr Gesicht und fahre ihre Unterlippe entlang. Allein wenn ich ihr Gesicht sehe, dann werde ich schwach. Sie ist meine Schwäche. Sie zu verlieren...das würde mich kaputt machen, ob ich will oder nicht. Ich küsse ihre Lippen ein letztes Mal. Meine Nase berührt ihre und meine Mimik verzieht sich in etwas, das ich nicht erklären kann. Ich schmecke die Süße ihrer Lippen und will, dass es das einzige ist, das ich für immer verinnerliche. Gänsehaut kriecht meine Arme hoch, die Haare stellen sich auf, und die Frische der Luft zieht um unsere Körper wie die Melodie eines Abschieds. Das hier ist keiner, trotzdem lege ich alles in den Kuss, was mir durch mein Leib geht. Ich komme mir so frei vor, obwohl ich eigentlich in mir gefangen bin. Ich bin ein Nichtsnutz mit komplizierten Gefühlen, dem Problem diese auszudrücken und einem abgefuckten Verstand, der mir immer wieder neue Streiche spielt.

Sie zu küssen, meine Gefühle und Emotionen in diesen Kuss zu legen, das nenne ich jetzt und hier meine pure und einzige Freiheit. Sie gibt mir das Gefühl jemand zu sein. Sie gibt mir die Chance jemand besseres zu sein, auch wenn sie weiß, - und das tut sie so gut wie ich -, dass das im Endeffekt doch eine Verschwendung sein könnte. Es gibt niemals Garantien auf die Verbesserungen eines Menschen, das ist jedem klar, aber mir eine Chance zu gewähren und mich nach all dem Scheiß, den ich verzapft habe, in ihr Leben zu lassen, ist im Grunde eine Ehre. Sie zu küssen, sie küssen zu dürfen und von ihr geküsst zu werden, das ist reines Glück. Sie hätte mich aus ihrem Leben werfen können wie Abfall, sie hätte mich anzeigen oder bei der Polizei verraten können, und doch sitzt sie noch immer mit mir in diesem Boot, das niemals die Sicherheit hat heil am Ufer anzukommen.

Die Sonne umhüllt unsere Körper in der frischen Morgenluft, ich küsse sie, und mir wird gerade so richtig bewusst, was für ein glückliches Schwein ich eigentlich bin, denn ich werde von ihr geliebt. Sie liebt mich und ich schwöre mir, hoch und heilig, ich werde alles für sie tun, alles für sie geben und alles für sie sein.

Wortlos und atemlos löse ich mich von ihr. Wie sehr wünsch ich mir, dass dieser Moment länger hält. Dass wir ungestört sein könnten, nur für eine weitere Weile, aber das geht nicht. So sehr ich mich mit ihr in einem Bett begraben möchte, desto mehr höre ich mein Gewissen schreien, dass andere Menschen mich brauchen. Dass meine Schwester mich braucht.

Ich sehe in Am's Augen. Dieses sanfte Braun sieht mich gefühlvoll an. Ich erkenne auch den Schmerz dahinter, auch die Angst. Ich will ihr sagen, dass alles gut wird, bekomme meinen Mund jedoch nicht los. Ich lasse sie los. Meine Hände schweifen von ihr ab, was sich wie der Verlust des Jahrhunderts anfühlt. Ich stehe auf, sehe ein letztes Mal zu ihr und fühle das Stechen in meiner Brust als ich mich umdrehe und hinter der Hütte verschwinde. Ich kann sie von nun an nicht mehr sehen, geschweigedenn wissen, ob sie auch meine Anweisungen befolgt und in Sicherheit bleibt. Der innerliche Gläubige in mir will, dass sie das tut. Aber der Realist in mir kennt bereits die Angst einflößende Wahrheit.

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