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Als ich noch ein Kind war, war ich oft mit meinen Eltern und Großeltern an einem See. Wir haben dort jedes Wochenende ein Picknick gemacht. Der See ist in der Nähe vom Haus meiner Großmutter, weshalb wir nie lange fahren mussten. Manchmal, wenn das Wetter richtig gut war, sind wir sogar mit den Fahrrädern hingefahren. Ich hab mich als Kind für die Schwäne fasziniert, die dort schwammen, und wollte sie immer streicheln, doch meine Mutter hat es mir immer verboten.

"Die werden dich beißen.", hat sie gesagt.

Sie hatte damit natürlich vollkommen recht, aber ich wollte ihr nicht glauben. Ich hab dann immer die beleidigte Leberwurst gespielt und mich nur noch bei Papa aufgehalten. Meine Mutter fand das nicht schlimm, ich war immer schon ein Papa-Kind gewesen und das wusste sie. Eines Tages am See, es war das letzte Mal, das wir dort waren, war sie bereits mit Austin schwanger. Ich war kein Kind mehr, ich war mittlerweile 13 und sollte in nur wenigen Monaten 14 werden.
Sie erzählte, dass das Baby ein Junge werden würde, und ich wollte unbedingt eine kleine Schwester. Ich wollte so unbedingt eine Schwester, dass ich meine Eltern lange zuvor zu überreden versuchte, einfach direkt das Kinderzimmer für ein Mädchen einzurichten.

Sie haben das natürlich nicht gemacht.
Sie haben alles neutral gehalten. Das Kinderzimmer befand sich in unserem alten Haus gegenüber von meinem. Ich liebte das Haus, denn darin wuchs ich die ganze Zeit über auf. Ich kannte jede Ecke, hatte an alles die schönsten Erinnerungen.
Jedenfalls war ich an dem letzten Tag am See so beleidigt darüber, dass das Baby ein Junge war, dass ich kein Wort mehr mit meiner Mutter sprach. Man kann es zu viel Temperament und den Drang zum Drama nennen, oder auch einfach Pubertät. Ich hatte sogar richtig Lust gehabt, mich mit ihr über das Geschlecht des Babys zu streiten, aber ich tat es nicht. Ich saß für den Rest des Tages bei meinem Dad und er erzählte mir Witze, die er mir schon etliche Male erzählt hatte, aber ich lachte trotzdem. Er ging mit mir zum Wasser, damit wir unsere Füße darin baumeln lassen konnten, und dann erzählte ich ihm von einen Jungen in meiner Klasse, der mich immer wieder ärgerte. Mein Dad sagte, dass der Junge mich bestimmt mochte. Ich glaubte ihm kein Wort. Ein paar Wochen später hatte dieser Junge versucht mich zu küssen, von da an glaubte ich meinem Vater jedes Wort.

Als Austin auf die Welt kam, rauschte mein Dad mit mir nach der Schule zum Krankenhaus, da er auf der Arbeit den Anruf bekam, das Baby würde kommen, und sofort Schluss machte, um mich aus der Schule zu holen und zu Mama zu fahren. Ich bin das absolute Ebenbild meiner Mutter, sagte mein Vater oft. Sie besaß diese langen, braunen Locken, die immer wild aussahen, und sie besaß diese warmen, braunen Augen. Ihre Haut war immer ein wenig dunkler als meine, aber ihre Figur spiegelt sich an meiner wider.
Mein Vater raste mit dem Auto so schnell durch die Stadt, dass ich Angst bekam, er würde über rot fahren. Wir kamen an dem Krankenhaus an und er nahm meine Hand, um mit mir zum Kreissaal zu flitzen. Als wir ankamen war das Baby gerade da. Austin war gerade da. Er war so klein und so zerbrechlich, dass ich Angst bekam, ich könnte ihn zerbrechen, als ich ihn im Arm hielt. Seine blauen Augen sahen zu mir hoch und sein dunkler Haarflaum bedeckte seinen winzigen Kopf wie eine kleine Mütze. Ich war von nun an eine große Schwester. Ich liebte dieses kleine Wesen in meinen Armen so sehr. Er hatte sein Leben noch vor sich. Er würde irgendwann erfahren, wie es ist, ganz bewusst zu lieben und er würde einmal ein gebrochenes Herz haben. Er würde Mädchen den Kopf verdrehen und er würde das alles mit einer liebenden, glücklichen Familie erleben. Ich schwor mir an diesem Tag im Krankenhaus, dass ich niemals zulassen würde, dass es diesem kleinen Menschen in meinen Armen schlecht ging. Ich würde ihn beschützen und ich würde ihn behüten, so lange ich nur konnte.

Als bei meiner Mutter Krebs diagnostiziert wurde, war Austin gerade ein Jahr alt. Er kann sich heute an nichts mehr erinnern, was auch gut ist, aber damals besuchten wir sie jeden Tag im Krankenhaus. Sie musste ihren Job als Einzelhandelskauffrau kündigen, da sie stationär im Krankenhaus bleiben musste. Sie wusste lange bevor wir es taten, dass sie diesen weißen Wände und diesem klinischen Geruch nicht mehr entkommen würde. Dass sie nicht mehr zur Tür raus gehen würde. Die Ärzte rieten ihr zu einer Chemotherapie, aber sie wollte keine. Sie wollte nicht, dass wir sahen, wie sie immer weiter kaputt ging, bis nichts mehr von ihr übrig war. Ihr war klar, dass ihre Zeit auf der Welt leider begrenzt war, und als ich eines Abends bis zur Nachruhe bei ihr blieb, Dad mit Austin bereits nach Hause war, erzählte sie mir ein wenig von ihrer Kindheit. Sie schwärmte von Großmutter und sagte, dass Großmutter immer für uns da sein würde, wenn wir Hilfe brauchten. Ich konnte ihr nicht sagen, dass ich nicht Großmutter bei mir haben wollte, sondern sie. Ich konnte ihr nicht sagen, dass ich doch gar nicht wusste, was ich ohne sie machen sollte. Ich war 15 und ich wusste nicht, was aus meinem Leben werden sollte. Ich hatte immer geglaubt, wenn ich einmal 57 wäre und meine Mutter dann versterben würde, wäre es einfacher für mich, denn dann hätte ich den größten Teil meines Lebens mit ihr verbracht, aber die Realität entschied sich dazu mir diesen Gedanken abzunehmen.

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