Uno

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Meine Augen öffneten sich fast automatisch als ich die vertrauten schleifenden Schritte vor meiner Tür hörte.

Es waren allerdings zwei paar Schuhe - vermutlich hatte mein Bruder wieder einen seiner Kumpels oder ein Mädchen mit nach Hause gebracht.

Seufzend stand ich auf und öffnete leise meine Tür. Wenn meine Eltern mitbekamen, dass er mal wieder heimlich abgehauen war, um zu feiern und zu saufen, dann gab es Stress und nicht nur für ihn - schließlich hatte ich ihn gedeckt.

"Hey Schwesterchen -" , begann er zu lallen.

Bevor er weiter sprechen konnte, drückte ich ihm meine Hand auf den Mund, da er wesentlich lauter sprach als er vermutlich annahm. Innerlich betete ich, dass meine Eltern oben nichts gehört hatten.

"Scheiße Ian, sei leise, du Idiot!", zischte ich und hörte plötzlich ein schleifendes Geräusch an der Wand neben mir.

Ich fuhr herum, denn erst in diesem Moment fiel mir auf, dass tatsächlich nicht nur Ian auf dem Flur war. Aufgrund der Dunkelheit konnte ich nur den Schatten der zweiten Person ausmachen - allerdings konnte ich wunderbar hören, wie etwas polternd zu Boden ging. Glas splitterte.

"Fuck - was hängt hier alles an der Wand?", fluchte eine raue Männerstimme. Mir lief unwillkürlich ein Schauder über den Rücken.

"Vermutlich ein Bilderrahmen!", flüsterte ich genervt. In dem Moment hörte man von oben Schritte. Im nächsten Moment ging das Licht oben im Flur an. Shit.

Ohne eine Sekunde länger zu zögern packte ich die beiden an den Armen und zog sie in mein Zimmer. "Klappe halten und nicht bewegen!", zischte ich, während ich die beiden hinter meine nun wieder geschlossene Zimmertür schob.

Schnell schlüpfte ich zurück in mein Bett. Ich hörte Schritte auf der Treppe. Im nächsten Moment öffnete sich leise meine Zimmertür.

Überraschenderweise regten sich die Jungs tatsächlich nicht.

"Jess? Bist du wach?", fragte mein Dad und ich hörte, dass er angespannt war.

"Ja - sorry wenn ich euch geweckt habe. Habe den Lichtschalter nicht gefunden, als ich aufs Klo gegangen bin!", log ich und tat so, als würde ich jede Sekunde wieder in den tiefsten Schlaf abdriften.

"Also hast du das Bild runtergeschmissen?", fragte er nun weniger besorgt.

"Ja, ich mach die Scherben morgen weg!"

"In Ordnung! Dann schlaf weiter!" Ich nickte: "Gute Nacht, Dad!" Er schloss die Tür hinter sich.

Sobald seine Schritte oben im Flur verklungen waren, schob ich die Decke zurück. "Puh - das war ja wohl mal knapp!", sagte mein Bruder prustend.

Ich verdrehte entnervt die Augen und schaltete meine Nachttischlampe an.
"So, los jetzt!" , sagte ich ruppig und bedeutete den Jungs mir zu folgen.

Leise schlüpfte ich aus meinem Zimmer und hakte meinen Bruder schließlich unter.

Seit er einmal betrunken die Treppe runtergestürzt war und sich nahezu jeden Knochen im Körper gebrochen hatte, riskierte ich nichts mehr und half ihm jedes Mal in sein Bett zu kommen, selbst wenn er sich manchmal dagegen sträubte.

Heute war er jedoch zum Glück recht zahm. Sein Kumpel kam hinter uns her und das so leise, dass ich wirklich daran zweifelte, dass er betrunken war. Ich hatte ein mulmiges Gefühl im Bauch, denn der Typ war mir völlig fremd und ich sollte ihn jetzt in unserem Haus schlafen lassen?

"Enzo, du kannst da vorn auf der Couch pennen!", lallte mein Bruder, während ich ihn in sein Zimmer und auf sein Bett hievte.

"Du wartest hier!", sagte ich kühl zu 'Enzo' und er blieb tatsächlich vor der Tür stehen. Ich zog Ian mittlerweile leicht aggressiv, da mich die ganze Situation mit dem Fremden ziemlich stresste und mein Bruder seine Gehirnzellen offenbar vollständig in Alkohol ersäuft hatte, die Schuhe aus.

Dann zog ich die Decke über seinen Körper und ehe es sich der Fremde anders überlegen konnte und doch zum Sofa ging, hatte ich das Zimmer verlassen und die Tür zu gemacht.

Nun stand ich mit einem Typen, den ich seit gerade mal guten vier Minuten kannte und der, wie ich eben im Licht meiner Nachttischlampe erkennen konnte, verdammt heiß war, im Nachthemd allein in unserem Flur.

"Was ist?", fragte er und unsere Blicke trafen sich nun das erste Mal, denn mein Dad hatte unten im Flur das Licht angelassen. Dieses war hier oben zwar nicht sonderlich hell, aber es reichte aus, um zu erkennen, dass seine Augen die Farbe von Zartbitterschokolade hatten.

Er roch nach Alkohol und Rauch, aber seine Augen sahen kein bisschen glasig aus. Das mulmige Gefühl in meinem Bauch breitete sich weiter aus.

Sein Blick glitt langsam an mir hinunter und ich verschränkte schnell die Arme vor der Brust.

"Du scheinst nicht betrunken zu sein, also warum denkt mein Bruder, dass du es nicht mal mehr bis nach Hause geschafft hättest?", antwortete ich und registrierte jede seiner Bewegungen.

Enzo zog einen Mundwinkel hoch und sagte: "Da hast du was in den falschen Hals gekriegt - Jess! Dein Bruder war so betrunken, dass er es nicht allein nach Hause geschafft hätte - er hat mir daraufhin angeboten, dass ich hier pennen könnte, da euer Haus nicht gerade auf meinem Weg lag!"

Immer noch musterte mich dieser Typ so genau, als wäre ich ein biologisches Objekt unter einem Mikroskop, welches es genausten zu analysieren galt.

"Und woher soll ich wissen, dass du kein Mörder oder Vergewaltiger oder ein Dieb bist? Was wenn ich morgen aufwache und die halbe Einrichtung fehlt?"

Mit diesem Typen stimmte etwas nicht - er hatte zwar eine wirklich attraktive Fassade, die einen zur Ablenkung geradezu verführte, doch dennoch entging mir das eigenartige Funkeln in seinen Augen nicht.

Er lehnte sich nun mit einer Schulter gegen die Wand - sein Blick ließ mich keine Sekunde lang los.

"Das kannst du natürlich nicht wissen - aber, denk mal in die andere Richtung. Was, wenn ich um diese Zeit-", er zog sein Handy hervor und warf einen Blick auf die Uhr, gerade so, dass auch ich erkennen konnte, dass es kurz vor halb vier war, "-nach Hause gehe und du morgen in den Nachrichten von einem tragischen Todesfall hörst? Oder davon, dass ein unschuldiger, junger Mann auf dem Weg nach Hause von irgendwelchen Irren überfallen wurde? Ich denke, du solltest abwägen, womit du eher leben könntest!"

Ich schnaubte. Was für ein Arsch - leider ein relativ intelligenter Arsch, wie mir schien, denn wenn ich ihn jetzt wegschickte, würde ich kein Auge mehr zu tun heute Nacht und das wusste er.

"Gib mir dein Handy!", wies ich ihn an. Überrascht sah er mich an.
Zögerlich entsperrte er es und gab es mir.

Facebook.

Perfekt.

Ich tippte die App an und sofort wurde sein vollständiger Name sichtbar.

Enzo González Álvarez. Ein spanischer Name.

"Ich weiß nun wie du heißt, also würde ich mir an deiner Stelle zweimal überlegen, ob du was mitgehen lässt!", warnte ich ihn und drückte ihm das Handy wieder in die Hand.

"Ich bin mir sicher, dass der Name Enzo González Álvarez nicht allzu häufig in dieser Umgebung auftritt!", fügte ich noch hinzu und drehte mich dann ohne ein weiteres Wort von ihm abzuwarten um und lief die Treppe leise wieder hinunter.

Lo Que Quieres - Was du wirklich willstWo Geschichten leben. Entdecke jetzt