Cincuenta

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,,Wirst du deinem Dad von mir erzählen?", fragte ich irgendwann in die Stille. Er schwieg weiterhin und ich sah auf. Enzo blickte durch meine weiten Fenster nach draußen, wo man kaum noch etwas erkennen konnte, da es bis auf das schwache Mondlicht stockdunkel war.

,,Wenn ich es tue, wird er dich töten! Genauso, wenn mein Bruder davon erfährt", stellte er fest. Das Adrenalin machte sich bereit für die nächste Runde durch meinen Körper. ,,Ich weiß."

Sein Blick wanderte zu mir und es war das erste Mal seit Heidelberg, dass er mich wirklich ansah. Sein Blick streifte meine Augen, meine Wangen, meine Nase und meine Lippen, wie eine hauchzarte Berührung. Ich bildete mir ein sowas wie Sehnsucht darin auszumachen.

,,Wenn ich es ihm nicht sage, gehen wir alle früher oder später ins Gefängnis. Und du könntest trotzdem noch sterben, weil sie nicht jeden einzelnen verhaften können und sie herausbekommen werden, wer uns verraten hat", ergänzte er und ich sah, dass er versuchte in meinen Augen zu erkennen, ob ich mir dessen bewusst war. Ich hatte darüber nachgedacht, doch in meinen Gedanken, hatte ich nie so eine endgültige Antwort auf die Frage, ob ich das überleben würde, finden können oder besser gesagt, finden wollen.

,,Wofür gehst du ins Gefängnis?", fragte ich stattdessen und erwiderte seinen Blick. ,,Wenn ich dir das sage, dann kannst du vor Gericht gegen mich aussagen. Damit hätte ich dir quasi mein Geständnis auf dem Silbertablett serviert!"

,,Muss ich mir denn Sorgen machen?" Er sah mich überrascht an. ,,Darüber, was ich getan habe? Ich habe niemanden weiteres getötet, aber für meine Familie musste ich Grenzen überschreiten, wenn es das ist, worauf du hinaus willst!"

,,Gesetzesgrenzen?"

,,Die und auch persönliche Grenzen! Wieso willst du das wissen?"

,,Weil ich mit mir selbst leben muss und gerade versuche herauszufinden, wie das gehen soll, wenn ich Herzklopfen bei einem Typen, wie dir bekomme!"

Seine Lippen teilten sich leicht und dann senkte er den Blick. ,,Ich will das hier nicht romantisieren, Jess und das solltest du auch nicht versuchen. Ich bin kein guter Mensch. Ich habe Dinge getan, auf die ich nicht Stolz bin und für die ich Jahre lang sitzen könnte!"

Ich schluckte anhand seiner brutalen Ehrlichkeit. ,,Ich glaube daran, dass es auch gute Menschen gibt, die schreckliche Dinge tun! Und böse Menschen, die Gutes tun. Ich denke, du gehörst zur ersten Sorte!"

Er schüttelte leicht den Kopf und wirkte ratlos. ,,Ich verstehe nicht, wieso du darauf beharrst, dass ich ein guter Mensch bin. Nur um dich selber besser zu fühlen oder glaubst du das wirklich?"

,,Ein bisschen von beidem, Enzo! Ein schlechter Mensch hätte nicht alles getan, um seinen Fehler zu korrigieren und jemanden anders in Sicherheit zu bringen. Ich weiß, dass es meine eigene Schuld ist, dass ich nicht auf dich gehört habe und mich, anstatt das Weite zu suchen, immer weiter mit reinziehen lassen habe. Aber das sollte dir auch klar sein! Ein schlechter Mensch würde nicht mit einem Funkeln in den Augen über Musik sprechen, die ihn im Herzen berührt und sie mit einem anderen Menschen teilen. Ein schlechter Mensch würde keine Gefallen tun, wie jemandem anders einen Wunsch zu widmen, nur weil er weiß, dass die andere Person zufällig auf die Musik eines bestimmten Künstlers abfährt - er würde sich selbst an erste Stelle setzen. Diese Fakten beachtend und noch einige weitere bringen mich zu der Erkenntnis, dass du kein schlechter Mensch bist!"

Wir sahen uns eine Weile einfach nur an bis er wieder das Wort ergriff. ,,Ich meinte das eben ernst, cariño. Ich - bin wirklich in dich verliebt."

In dieser einen Sekunde fühlte es sich an, als hätte er mein zerschundenes Herz mit einem einzigen Satz geheilt, was völlig verrückt war. Er hatte mir vor ein paar Sekunden gestanden, dass er viele schlimme Dinge getan hatte und plötzlich redeten wir über unsere Gefühle füreinander? Die Gefühle, die ich trotz seiner Geständnisse nicht einfach abschütteln konnte.

,,Ist es egoistisch von mir, dich jetzt küssen zu wollen?", wisperte er so leise, dass ich hätte denken können, mir seine Worte eingebildet zu haben, wenn seine Lippen sich nicht bewegt hätten. ,,Wenn es egoistisch ist, bin ich es auch!"

Mein Herz schlug mir bis zum Hals, als er sich langsam ein wenig vorbeugte. Ich spürte seinen Atem an meinen Lippen und sah durch seine dunklen Augen auf seine Seele, ehe ich meine Augen schloss. Als unsere Münder sich berührten, war es, als würde mein gesamter Körper aufatmen. Ein Gefühl der Verbundenheit durchströmte mich und als ich meine Hand auf seine Brust legte, fühlte ich, dass es ihm genauso ging. Sein Herz schlug in einem ebenso rasenden Takt, wie mein eigenes.

Sanft zog er mich an der Hüfte über den Boden zu sich. Eine seiner Hände fuhr mir in die Haare, die andere schlang er um meinen Rücken. Ich teilte meine Lippen und er kam der zaghaften Aufforderung nach.

Unsere Zungen berührten einander und es war als würde diese intime Berührung kleine Blitze meine Wirbelsäule hinab senden. Jegliche Anspannung der letzten Tage fiel von mir ab. Mir entfuhr ein leises Seufzen und ich spürte, wie seine Lippen sich zu einem leichten Lächeln verzogen.

Ein paar Augenblicke später löste er sich jedoch von mir und strich mit mit dem Daumen über meine Wange. ,,Wieso weinst du?", flüsterte er.

,,Weil ich so unfassbar glücklich bin und gleichzeitig soviel Angst habe, wie noch nie zuvor in meinem Leben! Ich werde sterben! Das weißt du genauso gut wie ich - du hast es eben selbst gesagt."

Einen Moment sah er mich nur an, ehe er leise sagte: ,,Ich werde alles tun, um das zu verhindern, cariño!" Er zog mich in seine Arme und ich drückte meine Gesicht gegen seine Brust, sodass meine Tränen begannen sein Hemd zu tränken. Ich spürte, dass ich zu zittern begonnen hatte.

Lo Que Quieres - Was du wirklich willstWo Geschichten leben. Entdecke jetzt