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Mein Gepäck fertig verstaut stehe ich mit den anderen am Steg. Jemanden zu finden, der mich auf seinem Schiff mitnimmt, hat sich als leichte Hürde erwiesen und das sogar ohne Manipulation. Meine Augen schweifen über das Schiff, auf welches ich mich jeden Moment begeben werde. Auf eine neue Reise. Neue Ziele.

Valeria hat Recht behalten, denn es hat wirklich nicht lange gedauert, bis ich wieder dieses Gefühl verspürt habe aus dieser Stadt rauskommen zu müssen. Auch wenn es jedes Mal aufs Neue nicht leicht ist sie alle hier zurück zu lassen, ist es für mich noch schlimmer zu lange an diesen Ort gebunden zu sein. Dies hat sich bis zum heutigen Tag nicht geändert.

Matteo ist der Erste, der mich umarmt und fest drückt. Seine starken Arme pressen meinen Körper an sich und ich muss mein Lachen unterdrücken, wenn ich an die Zeit denke, in der ich ihn als kleinen Jungen in die Arme genommen habe und nicht er mich. Nun ist er erwachsen, gewandelt wie seine Eltern.

„Bleib nicht zu lange weg, okay? Du kannst uns hier schließlich nicht so lange allein lassen", brummt er an mein Ohr und ich nicke an seine Brust. „Ich werde es versuchen."

Schmunzelnd löse ich mich und kurz darauf wird der Sohn durch seine Mutter abgelöst, welche mich ebenfalls an sich presst. „Warum musst du auch immer wegsegeln?", flüstert sie mit belegter Stimme und ich streiche ihr beruhigend über den Rücken. „Ich komme wieder. Genieße die Zeit, in der du Ruhe von mir hast."

„Oh das werde ich", lacht sie, wenn auch mit Tränen in den Augen, als wir wieder voreinander stehen und uns für eine ungewisse Zeit voneinander verabschieden. Als ich mich dann von Vincenco verabschiede drückt er mich ganz fest an sich, als wäre er nicht nur ein Freund, sondern wie ein besorgter Vater.

„Pass auf dich auf, okay? Ich will nicht, dass meine Frau wegen dir noch mehr weinen muss. Und deine Schwester muss ich ja erst gar nicht erwähnen", brummt er mit einer Stimme, die er seinem Sohn vererbt hat, und bekommt von mir einen Kuss auf die Wange. „Keine Sorge, ich bin ein großes Mädchen. Ich komme schon zurecht."

Zuletzt nehme ich meine Schwester in den Arm, die dieses Mal deutlich gefasster zu sein scheint. Dennoch erkenne ich in ihren Augen, dass auch sie mich ungern ziehen lässt. „Lass uns nicht zu lange allein. Und vielleicht hält es dich das nächste Mal für länger hier."

Statt ihr zu antworten gebe ich ihr einen Kuss auf die Stirn, bevor ich auf das bereits wartende Schiff gehe. Ihr eine Antwort darauf zu geben fühlt sich falsch an, denn wenn ich nicht einmal mich davon überzeugen kann, wie sollte ich es bei ihr schaffen?

Das Schiff setzt ab und ich schaue zu meiner kleinen Familie, wie sie immer kleiner werden, bis man sie beinahe nicht mehr sehen kann. Ich wende mich ab, blicke in die Richtung meines Ziels, wo ich die nächsten Jahre verbringen werde. Wo ich hoffentlich das finden werde, was ich verzweifelt versuche wieder zu gewinnen. Bevor mein Leben eine Wendung genommen hat, die mir den Boden unter den Füßen weggezogen hat.

Und sobald ich auf amerikanischem Boden stehe fühle ich mich wie ausgewechselt. Freier. Ohne die Last meiner Vergangenheit.

Wie lange ich hier bleiben werde ist noch nicht festgelegt, doch dieses Land hat so viel zu bieten, dass es sich um einige Jahre handeln wird. Geplant ist, wie ich es damals schon getan habe: je ein Jahr in einer anderen Stadt zu verbringen. Neue Menschen, neue Kulturen zu sehen und zu versuchen wieder zu mir selbst zu finden. 

Bloody SeductionWo Geschichten leben. Entdecke jetzt