Kapitel 5

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Issy

Meine rechte Seite. Das ist alles voran ich gerade denken kann, wie sehr und unbarmherzig meine rechte Seite schmerzt. Hätte ich nur besser aufgepasst, dann wäre es nicht passiert, der Typ hätte mich nicht verletzt und ich wäre keine Last für Daniel und Gabriel. Verdammt, wieso kann ich nicht aufpassen! Ich drehe mich nach rechts und mich durchfährt ein Stich, der mich aufstöhnen lässt. Sofort werde ich von Gabriel und Daniel umzingelt, die mich mit Fragen löchern. Wie es mir geht? Ob alles ok ist? Ob ich etwas haben will. Mein Mund ist zu trocken, als dass ich reden könnte. Ich ziehe mit meinem Daumen die Linien meiner Lippen nach. Sie sind so trocken, dass sie schon verrunzelt sind.  Ich will mich aufrichten, doch ich werde von Gabriel sanft zurück ins Bett gedrückt.
>> Was willst du? << fragt Daniel besorgt, er schaut so aus, als hätte er wenig Schlaf gehabt.
>> Wass.. << krächze ich. Das Reden soll mir nicht gewährt sein, denn ich muss stark husten. Mit jeden mal, zerreißt der Schmerz meine Gedanken.
>> Wasser? << fragt Gabriel.  Ich nicke und bin froh verstanden worden zu sein. Er reicht mir eine Wasserflasche. Ja! Eine Wasserflasche. Woher habt ihr die? Ich nehme sie dankbar an und trinke die ganze Flasche leer.
>> Danke. Wo habt ihr die Flaschen denn her? << huste ich.
>> Von Claire. << spricht Daniel zu mir.
>> Sie hat dir auch Medikamente dagelassen und Verbandszeug mit Salben. << ergänzt Gabriel. Sie hat was? Ist das ein schlechter Scherz? Wieso um Himmels Willen sollte sie mich und meinen Bruder in die wahre Hölle schicken, damit wir sterben und mir dann erstrecht helfen, dass ich überlebe? Wie kann denn das möglich sein? Liegt das an meiner Logik, oder ist es vollkommen in Ordnung das Vorgehen einer psychisch Gestörten nicht zu verstehen. Letzteres ist wahrscheinlicher.
>> Wir wissen es ehrlich gesagt auch nicht. << meint Gabriel abwesend, woraufhin Daniel ihm einen bösen Blick zuwirft. Ich frage nach den Tabletten. Sie geben mir so ein Antibiotikum gegen Entzündungen und gegen Schmerzen. Ich schlucke sie hinunter.
>> Sie hat allen hier Essen und Trinken besorgt, nur dir hat sie eben die Medikamente dazugegeben.<< berichtet Daniel. Ich sollte mich freuen, dass ich durch die Medikamente keine Probleme haben werde. Aber es macht mir Angst, denn das bedeutet das Claire will, dass ich überlebe. Wieso ihr an meinem Überleben etwas liegt, wo sie doch dabei ist so viele Menschenleben auszulöschen, scheint ein Rätsel zu bleiben. Dann fällt mir ein, dass Daniel was von Essen geredet hat. Ich habe Hunger! Ich schaue mich im Raum um.
>> Essen? << frage ich lächelnd, sofern es mir den Umständen entsprechend halt möglich ist. Sie nicken synchron und Gabriel wirft mir ein Sandwich zu. Ich beiße genussvoll hinein. Ich habe das Gefühl, das beste Essen in meinem ganzen Leben gegessen zu haben. Es zergeht auf meiner Zunge. Das Stechen hört langsam auf, die Tabletten wirken langsam aber sicher. Ich atme erleichtert auf. Mein Hunger und mein Durst wäre mal gestillt. Da bemerke ich wieder, wo wir sind und was wir hier machen. Jamie. Ich bin die schlechteste Schwester auf der ganzen, ich habe Jamie nicht nur für Sekunden vergessen sondern gleich für einen ganzen Tag. Ich muss ihn finden. Sofort. Ich stehe schnell auf. Ich beiße die Zähne so stark zusammen, dass ich schon befürchte ich könnte mir den Kiefer brechen. Keinen Schmerz zeigen sonst bist du an das Bett gefesselt, Issy. Ich gehe langsam ins Badezimmer. Sie folgen mir. Anscheinend ist ihnen nicht klar, dass ich die Wunde anschauen will und somit alleine sein möchte. Ich drehe mich zu ihnen um.
>> Ich würde es bevorzugen, alleine ins Badezimmer zu gehen.  << erwähne ich so nebenbei, als wäre es das natürlichste überhaupt. Sie blicken zu mir, als hätte ich sie gerade nach Drogen gefragt.
>> Sicher nicht, was ist wenn du ohnmächtig wirst? << will Daniel wissen.
>> Wir reden, wenn ich aufhöre zu reden, bin ich ohnmächtig geworden. Daniel es ist sehr unwahrscheinlich das ich ohnmächtig werde. << gebe ich ihm zu verstehen.
Dann darf ich endlich, alleine, ins Bad. Als ich die Wunde betrachten will, werde ich wirklich fast ohnmächtig. Verdammt, sie haben mich verbunden, sie haben sie gesehen. Meine Narben. Ich merke wie mir die Farbe aus dem Gesicht weicht. Das hätten sie nicht sehen dürfen. Nicht einmal Jamie weiß von ihnen. Niemand wusste von ihnen. Ich habe es immer geschafft sie zu verbergen. Beim Schwimmen immer Badeanzüge getragen die alle verdeckt haben. Mir kommen die Tränen. Mit jeder einzelnen Träne die sich in die Freiheit bahnt, schnürt mir der Zorn und der Hass auf diese Claire, die Kehle zu. Ich halte es nicht aus. Sie zerstört mein Leben, bringt mich um und vielleicht auch Jamie. Sie bringt mich dazu einen Blick in meine Vergangenheit zu werfen. Meine Vergangenheit ist verschlossen, ich habe sie verriegelt und verbarrikadiert. Niemand hatte mehr Zugang zu ihr, nicht einmal ich. Ich habe mir, meine zweite eigene Welt erschaffen, eine ohne die Furcht und den Hass den ich als Kind eingetrichtert bekommen hatte. Ich lebe seit 18 verdammten Jahren, dennoch lebe ich erst seit 2 Jahren ein wahres Leben. Ohne dauerhafte Angst und Misstrauen. Ich habe es über die Jahre geschafft, Jamie zu beschützen und es wurde zu meiner Lebensaufgabe, bis ich das Problem beseitigt habe. Danach waren wir frei, wir haben uns so weit wie möglich von unserem alten Zuhause entfernt, ich habe uns mit dem Geld eine Wohnung gekauft und Jamie bei der Schule angemeldet. Alles schien wieder eine normale und reale Welt zu werden, in der es sich zu leben lohnt. Bis wir gefangen genommen wurden. Wenn ich es nicht besser wüsste würde ich sagen, dass er uns gefolgt ist, aber es ist unmöglich, ich habe ihn getötet. Ich habe ihn die Treppe hinuntergeworfen. Er ist tot und begraben. Sein nutzloser und hasserfüllter Körper wird gerade jetzt, von irgendwelchen Tieren zersetzt. Er ist es nicht. Ich möchte nicht sagen, dass ich dieses Schicksal jemand anderem wünsche, aber ich und Jamie sind schon gezeichnet für das restliche Leben. Ich bin nur froh, dass Jamie nicht zu viel mitbekommen hat. Deswegen muss ich ihn beschützen, wenn ich es einmal geschafft habe sollte es auch ein zweites Mal klappen. Ich werde auf keinen Fall zulassen das Jamie dieselben Narben bekommt wie ich, damit meine ich nicht meinen misshandelten und vernarbten Rücken, damit meine ich die psychischen Schäden, die einem, ein Leben lang begleiten. Es gibt kein Zurück mehr, nie wieder. Wir müssen in der Gegenwart bleiben, und wie ich gerade merke wird sie langsam unangenehmer als meine verdrängte Vergangenheit.

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