Kapitel 49

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Flucht 2

Issy

Ich bin aufgeregt, wie ein kleines Kind und das macht mich aus unerklärlichen Gründen glücklich. Wann hat man schon die Möglichkeit, sich für ein paar unwichtig erscheinende Sekunden, wie ein Kind zu freuen, das gerade sein Weihnachtsgeschenk bekommt. Gabriel und ich warten. Auf was wir warten wissen wir nicht, vielleicht ist es ein Wunder, das wir eigentlich ja wirklich brauchen, wenn wir hier raus wollen. Wie oft ich dieses Thema anspreche. Wie oft ich die Möglichkeiten durchgehe, die mit einer Flucht oder einer Niederlage hervorgehen. Wie kann ich mir sicher sein, wie das hier ausgeht? Mein Herz rast vor Freude, dass ich hier endlich hinaus komme, doch mein Verstand zweifelt. Auch wenn es sinnvoll ist, dem Verstand mehr Glauben zu schenken, als dem Herzen, sehne mich nach einer Lösung, die alles wieder richtig einrenkt, sodass Daniel und ich endlich wieder zusammen sein können, dass ich Katrin und Manuel und vor allem meine Kindheit, die Brutalität des täglichen Alltags hinter mir lassen kann. Dass ich in die Zukunft blicke und dabei an die Liebe von Daniel und Jamie und an die Freundschaft mit Gabriel denke. Bis jetzt verlief mein Leben nicht gut, der Misshandlung und dem Alkoholproblem meines Bruders einmal abgesehen, das sogenannte Leben, war für mich nie erfüllt. Ich hatte Freunde, ein paar, dennoch wurde ich das nagende Gefühl nicht los, dass wenn ich sie brauchen würde, sie wegsehen würden, wie die kaltherzige Mehrheit auch. Natürlich hatte ich recht, so schnell wie die blauen Flecken kamen, schwanden meine Freunde und ich war alleine. Alleine in einer neuen Welt für mich, in der ich Angst hatte nach Hause zu gehen, weil dort mein Bruder wartete. Wenn er wieder einmal seine Touren gemacht hat, wo er zwei, drei Wochen unauffindbar war, habe ich TV-Serien geschaut. Hauptsächlich jene, die über Teenagerprobleme handelten, und dort wurde mir bewusst, dass meine Probleme nicht einmal in einer lächerlichen Serie vorkommen, weil sie so absurd und einsam sind. Probleme die nicht von super beliebten Freunden gelöst werden können, werden nicht erwähnt. Sie werden der Gesellschaft vorenthalten. Wenn mich jemand fragen würde ob mich das verändert hat, würde ich mit simplen fünf Worten antworten, die alles erklären und weitere Fragen unnötig machen.
Ich habe meinen Bruder umgebracht.

Diese Worte und die Emotionen die damit verbunden sind, schließe ich meistens weg. Mir wurde von Chris eine Realität in mein Hirn eingepflanzt, die besser war als meine echte. Denn ich hatte einen Grund, eine Ausrede dafür, ich war verrückt. Das habe ich eine Zeit lang geglaubt, weil Chris ein echt abnormal guter Hypnotiseur ist. Doch was passiert, wenn du auf einmal, wieder voll bei dir bist, ohne Ausrede oder Grund und du dir erneut bewusst wirst, dass du einem Menschen das Leben geraubt hast? Noch dazu einem Familienmitglied? Die Antwort ist einfach, ich komme nicht damit klar, doch ich habe einen Lichtblick, den ich nur wahrnehmen kann, wenn Daniel, Jamie und Gabriel mit mir an meiner Seite sind. Und das ist nur möglich, wenn wir alle überleben. Ich habe ein schlechtes Gefühl Daniel mit Jamie hier alleine zu lassen, doch Chris meint, sie hätten schon einen Plan. Auf die Frage, ob sie es schaffen werden, antwortete er nicht. Aber ich muss es machen. Meinen einzigen Fluchtweg werde ich nützen, ich werde die Polizei animieren, sie werden kommen und das verdammte Hotel niederreißen und Katrin aus ihrer verlogenen Höhle hinausziehen. Sie wird büßen, was sie mir angetan hat sie wird sich wünschen, sich niemals in meinen Bruder verliebt zu haben. Mir kommt sogar der Gedanke sie umzubringen aber das ist nicht dasselbe Feeling, als wenn sie Jahrzehnte hinter Gittern ist. Ich werde sie jährlich besuchen, an dem Tag, an dem wir geflohen sind und sie eingesperrt wird. Ich habe nicht einmal annähernd eine Ahnung, welches Datum wir schreiben. Auch wenn ich nicht gerade in einem Hotel festgehalten werde, muss ich zugeben, dass ich meistens das Datum auch nicht weiß. Doch eines ist gewiss, dieses Datum werde ich mir merken. Gedanklich in Stein meißeln. Die Vorstellung, wie sie mich hasserfüllt anblickt, und mir den Tod wünscht ist genüsslich. Ich werde ihr einen Strauß Blumen bringen, die Lieblingsblumen von Manuel, Tulpen. Ich werde ihr zusätzlich noch eine Grußkarte schenken. Soll sie doch an den Blumen und an der Karte ersticken. Als Krönung werde ich mich immer mit denselben Spruch verabschieden > Man sieht sich Claire < sie wird es hassen und ich umso mehr lieben. Ich sehne diese Augenblicke mit einem Lächeln entgegen. Es muss nur noch der winzige Part geschehen, wo wir tatsächlich fliehen. Wie aufs Sprichwort, reißt Chris die Tür auf. Gabriel und ich stehen schnell auf den Beinen und warten. Chris ist außer Atem.
>> Los kommt. Planänderung. Wir fliehen jetzt. Zusammen! << Wir fragen nicht nach, wieso er beinahe schweißgebadet vor uns steht und wir fragen auch nicht nach was denn schiefgelaufen ist. Wir lassen es einfach sein. Wir düsen aus unserem persönlichem Gefängnis. Wir folgen Chris. Lautlos. Gedankenlos. Wir biegen einige Male links und dann wieder rechts ab, nach einer Zeit ist es nicht mehr wichtig. Dann erreichen wir das Treppenhaus. Das einzige was uns noch von den Treppen abhält ist die Feuerschutztür. Ich blicke Chris erwartungsvoll an. Er kramt in seiner rechten Hosentasche nach dem Schlüssel und sperrt zitternd auf. Achtlos lässt er die Tür offen und stürmt, zwei Stufen auf einmal nehmend die Treppen hinunter.
>> Was ist passiert? << keuche ich, während ich versuche das Tempo, das Chris vorgibt zu halten.
>> Sie sind geflohen. <<
>> Wer? << frage ich.
>> Wer? Wer ist noch hier außer ihr? Alle wurde umgebracht ihr vier wart die Letzten. << brüllt er über seine Schulter. Das bedeutet Daniel und Jamie konnten fliehen! Ich schaue zu Gabriel er lächelt. Ich lächle zurück. Sie haben es geschafft! Draußen wartet ein lebendiger Daniel auf mich! Ich freue mich über alles und doch drängt sich die Frage in mein Gewissen: Wo ist Katrin?
>> Wo ist sie? <<
>> Ich habe keine Ahnung! Ich habe sie angekettet, Gott weiß wie lange sie das aufhält. << ruft Chris.
Jetzt bekomme ich es mit der Angst zu tun. Sie ist hier und sucht uns. Die Chance das sie uns findet ist mehr als hoch und sie ist wütend.

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