Kapitel 9

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Issy

Muss das  sein? Ja, ermahnt mich mein Verstand. Ich betrete den vierten Stock. Ich atme ein paar Mal durch die Nase. Alles ist blutverschmiert. Alles. Ich stütze mich mit meiner linken Hand an der Wand ab. Neben mir liegt eine Frau mittleren Alters. Tot. So wie die anderen Leichen, wurde ihr die Kehle durchgeschnitten. Mit einem glatten Schnitt, einfach durch. Sie verlieren Unmengen an Blut, und das hier ist dann das Ergebnis. Mein Verstand sagt mir wegschauen, aber ich schaffe es nicht. Ich muss mir die Menschen ansehen, die meinetwegen gestorben sind. Ich gehe neben die Frau in die Hocke. Schließe die Augen und stelle mir ihr Leben vor. Zuhause warten ihre Kinder die schon seit ein paar Tagen nichts von ihr gehört haben. Ihr Mann wird seinen Kinder plausible Erklärungen geben, weshalb die Mama momentan nicht da ist. im Nachhinein wird er die Polizei erneut anrufen und hoffen, dass diese Neuigkeiten über das Verschwinden von ihr haben. Irgendwann muss die Polizei doch skeptisch werden, wenn rund  50 Menschen spurlos verschwinden. Natürlich werden nicht alle als vermisst gemeldet, wie ich und Jamie. Ich kümmere mich und da ich 18 bin, kann ich alles regeln. Bis jetzt. Ich habe ihn verloren, doch ich glaube fest daran, dass er noch lebt. Gibt es nicht so eine Art Telepathie zwischen Geschwistern? Würde ich nicht merken, wenn er tot ist? Ich weiß es nicht. Ich öffne meine Augen, da die Tränen mich dazu zwingen. Wieviel ich hier schon geweint habe. Ich wische mir die Tränen mit dem Handrücken weg. Dann stehe ich auf. Mit wankenden Beine gehe ich davon, ohne Sinn und ohne ersichtlichen Grund. Ich muss sterben und dass so schnell es geht. Damit ich Jamie und Daniel retten kann. Der wahre Grund wieso ich noch lebe? Ich bin eine feige Sau. Niemals könnte ich mich selbst umbringen. Diese Einsicht ist niederschmetternd. Das Schlimmste ist das Katrin, dass genau weiß. Sie möchte, dass mich jemand tötet. Das ich leiden muss. Nur ich. Ich verstehe nur nicht, was die anderen Leute hier für eine Rolle spielen? Ist das ihr persönlicher Kick? Oder geht es ihr darum, dass ich mich schuldig fühle, dass die Leute alle, wegen mir tot sind? Egal was es ist. Sie hat Letzteres problemlos erreicht. Ich steige über eine gewaltige Blutlache. Mitten in der Bewegung erstarrt mein ganzer Körper. Ich starre diesen einen Tatort an. Ich schreie auf, aber halte mir sofort den Mund zu. Schreien verrät deine Position Issy.  Still sein. Ich sehe es und kann wie immer nicht wegschauen. Es ist schrecklich, wer ist nur in der Lage so etwas zu tun? Ich drehe mich um, weg von hier. Ich kann mir das nicht länger anschauen. Ich höre die beiden um die Ecke kommen, habe aber nicht genug Zeit mich zu verstecken, sie erblicken mich. Daniel und Gabriel. Sie sehen ihn auch. Gabriel dreht sich sofort um und übergibt sich. Daniel vermeidet mit ihn Augenkontakt zu haben. Ich beginne zu stottern.
>> Wer ist dazu in der Lage, ich meine wer, … << ich kann es nicht aussprechen. So eine Grausamkeit habe ich nicht einmal hier erwartet.
>> Wer jemanden einen Kopf abhacken kann und ihn demonstrativ in die Mitte legen kann wo einem die toten Augen des armen Kerles sofort anstarren?! << schnauft Gabriel. Er sieht verdammt mitgenommen aus. Er steht noch immer mit dem Rücken zu dem Kopf, wie ich, nur Daniel hat die Disziplin gerade zu stehen. Er ringt mit sich, er würde am liebsten Schimpfen und brüllen. Er knirscht mit den Zähnen, dass ich es höre. Es ist so leise. Gabriel und ich lauschen dem Zähneknirschen so gebannt, das ich leicht aufschrecke als es plötzlich aufhört, ich vergewissere mich, dass Daniel noch da steht. Er tut es.
>> Was hast du dir dabei gedacht? << beginnt Daniel. Ich verdrehe die Augen.
>> Daniel? Hallo? Gabriel, du und die restlichen Überlebenden können nur überleben wenn ich sterbe. Das geht nur, wenn mich jemand  umbringt, und das würdet ihr nicht zulassen wenn ich bei euch bin. << erkläre ich.
>> Du musst doch nicht sterben, es gibt andere Lösungen!<< merkt Daniel an.
>> Ach ja? Dann bitte, nenne mir eine einzige, mir fällt nämlich nicht einmal eine ein. Wenn du denkst, dass du mir einen Schritt voraus bist, bitte… << er soll seinen tollen Plan erklären. Jetzt. Er überlegt. Er hat keinen, wie ich es mir schon gedacht hatte. Ich nicke lächelnd und gehe an ihnen vorbei. Er packt mich am Arm, ich versuche es zu ignorieren aber er lässt nicht los.
>> Daniel lass mich los! Sofort!<<
>> Nein. Gut möglich, dass es dir nicht aufgefallen ist, aber mir liegt etwas an dir, Issy. Ich würde es sehr bevorzugen wenn du am Leben bleibst.  << ich stampfe wie ein rotziges Kind mit meinem Fuß auf. Er soll mich nicht belehren, das hier ist die wahre Realität ohne Ponyhof und ohne Regenbögen.
>> Wie lange sind wir hier? Vielleicht drei Tage? Wenn du glaubst, dass uns wer hilft, dann täuscht du dich gewaltig. Wir werden alle sterben, alle. Wenn ich aber vor euch sterbe bleibt ihr am Leben. Du musst das doch verstehen, es gibt für mich keinen Ausweg! << ich bin zum Tode verbannt worden. Es gibt keine Option in der ich lebe, und dass macht es, so komisch es auch klingen mag, einfacher.
>> Was ist wenn sie uns nicht gehen lässt nach deinem aufopferungswürdigen Tod? <<
>> Das können wir nur erfahren wenn ich sterbe. Wie schon hundert Mal gesagt, Daniel ich muss sterben. Es ist die einzige Möglichkeit. << es macht mich traurig so über mein Ableben zu reden, es ist aber nun mal die Wahrheit. Daniel kommt auf mich zu, er hält noch immer meine Hand. Was hat er vor? Er steht ganz dich vor mir, und nimmt meine Hand in seine. Mit seinem Daumen fährt er über jeden einzelnen Finger, bin ich froh, dass man auf Fingern keine Gänsehaut bekommen kann. Er macht die Geste so zart und liebevoll, dabei setzt er ein nachdenkliches Gesicht auf. Wie war das noch einmal, dass ich mich nicht verliebt habe? Kann man sich denn so schnell verlieben? Anscheinend schon und ich ärgere mich ein bisschen darüber. Ich werde aus diesem  Traum gerissen. Daniel hebt mich so plötzlich hoch, das ich kurz quieke, welches sich dann in Lachen verwandelt. Langsam lässt er mich wieder runter. Dann kommt er ganz nah, so nah, dass ich befürchte er könne meinen Herzschlag hören. Ich will etwas Distanz schaffen. Er zieht mich wieder an sich, sodass ich wortwörtlich an ihm klebe. Er streicht mir die Haare hinters Ohr, dabei hält er immer Augenkontakt. Mach es! Verdammt noch mal. Küss mich. Er macht es nicht. Ich bin kurz davor, zu schmollen anzufangen. Er kann doch nicht so anfangen, und dann nichts tun.
>> Ohne dich gehe ich hier nicht raus, auch wenn es heißt, dass wir sterben. Ist auch gut. Du wirst mich nicht mehr so schnell los, da kannst du lange warten. << lächelt er mich an, dieses Lächeln! Es ist zum dahinschmelzen. Bevor ich mich aufregen kann wie sehr er mich abgelenkt hat, werde ich über seine Schulter geworfen, als wäre ich so leicht wie eine Feder. Er trägt mich! Was macht er? Was hat er vor? Ich blicke Gabriel verwirrt an. Er zuckt mit den Schultern. Super, er weiß es auch nicht, dass bedeutet Daniel handelt gerade spontan. Wir gehen lange. Ich denke mir nur, dass ich langsam wirklich schwer sein muss. Er macht eine Tür auf, die zum Glück leichenfrei ist. Er setzt mich ab und küsst mich. Endlich, da ist mein Kuss! Mein Hintergedanke ist, dass ich schnell meine Einstellung und Stimmung geändert habe, aber ist es denn so falsch, wenn es sich so richtig anfühlt? Kann ich nicht einfach meine beschissene Situation ausblenden nur für ein paar Momente. Das wäre so schön. Einfach fabelhaft. Als Gott Verstand ausgeteilt hat, war ich die erste in der Warteschlange. Nichts kann ich genießen ohne innerlich die Pro und Kontras abzuwiegen. Natürlich sind die Kontras schwerer. Mein Verstand baut den ersten brauchbaren Plan wie ich sterben kann. Er ist perfekt. Ich kann es aber nicht so, glaube ich. Heute werde ich neben Daniel mit einem Lächeln einschlafen. Gabriel wird zwar das nächste Kissen beanspruchen, aber es ist das Beste was ich aus der Situation holen kann. Einfach genießen, dass Daniel hier ist, genau neben mir, dass seine Hand nur wenige Zentimeter von meiner entfernt ist. Also genieße ich es, ein letztes Mal mit einem Lächeln auf meinen Lippen.

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