Kapitel 99 🎈

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Langsam trete ich hinter dem Bühnenvorhang hervor. Nachdem Monroe eine kurze Ansprache gehalten hat, wurde es im ganzen Saal stockfinster. Nur ein heller Scheinwerfer leuchtet direkt auf mich. Von diesem Standpunkt erkenne ich nichts mehr was um mich herum geschieht. Ich erkenne knapp Parkers Silhouette, aber keine Gesichtszüge.

Ich muss mich konzentrieren.

Ich blende alles um mich aus und schlüpfe voll und ganz in meine Rolle.

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Im Großen und Ganzen läuft alles gut. Jeder kennt seinen Text, die Kostümwechsel laufen ganz automatisch ab und die Choreos sitzen perfekt. Irgendwann ist das maulige Gefühl in meiner Magengrube, dass ich hatte als ich auf die Bühne getreten bin, schon fast verschwunden.

Jetzt singt gerade Ben sein Solo während ich mich hinter der Bühne für die letzte Szene bereit mache. Die Szene, die ich am meisten fürchte.

Die Kuss-Szene.

Layla ist mir gerade noch behilflich mit meiner Perücke, als sie mir tief in die Augen sieht: "Mach dir nicht allzu viele Sorgen. Es wird alles gut kommen." Sie zwinkert mir noch schnell zu, dann muss ich auch schon wieder auf die Bühne.

Unsicher und voll in meiner Rolle gehe ich langsam auf die Bühne. Ich frage mich, ob man im Publikum meine Schuhe auch klacken hört. Ich komme Ben immer näher und nun stehen wir uns gegenüber ganz vorne und alleine auf der Bühne. Hinter uns wurde der Vorhang zugezogen, dass sie das Bühnenbild ändern können. Aber ich sehe nur Bens Augen.

"Ella? Was machst du hier? Woher wusstest du, dass ich hier bin?", spricht Ben seinen Text.

Ich schlucke: "Logan, ich muss dir was sagen."

"Das scheint ziemlich ernst zu sein."

"Ist es auch. Aber du musst mir glauben, dass war alles nicht so geplant. Ich wollte nicht, dass es sich zu einer so grossen Sache entwickelt. Es sollte eine einmalige Aktion sein, doch dann... doch dann warst da du und ich war nicht mehr imstande vernünftige Entscheidungen zu treffen."

"Ella, du sprichst in Rätsel! Ich verstehe nicht auf was du hinaus willst. Und jetzt sollte bald meine beste Freundin Jessica kommen mit der ich hier verabredet bin."

"Ich wollte dich nie anlügen! Aber Jessica wird nicht mehr kommen..."

Ben zieht eine seiner Augenbrauen hoch: "Wie meinst du denn jetzt das?"

"Weil ich schon hier bin.", sage ich und ziehe mir die schwarze Perücke mit den pinken Strähnen vom Kopf und lasse meine blonden Haare über die Schulter fallen.

Ben ist ein so guter Schauspieler. Das ganze Publikum ist angespannt und wartet auf seine Reaktion: "Du weisst nicht wie froh ich darüber bin, weil ich mich schon gefragt habe, wie es nur möglich sein kann, zwei Menschen gleichzeitig zu lieben!"

Er legt mein Gesicht in seine warmen Hände. Jetzt sollte eigentlich auch unser Kuss folgen, doch wir beide zögern. Ich schaue kurz unauffällig zu Parker, der mir zunickt und mir das Zeichen gibt, dass ich es tun soll. Und dann lasse ich es geschehen. Die Lippen behielt ich selbstverständlich zu. Ben zum Glück auch. Er fühlt sich sicher auch nicht ganz wohl bei dieser Sache. Aber danach sind wir beide umso glücklicher, als es endlich vorbei war und wir uns wieder voneinander lösen konnten.

Wir wenden uns dem Publikum zu, reichen uns die Hand und setzen uns ein Grinsen auf, so wie es im Drehbuch geschrieben steht. Dann beginne ich die erste Zeile zu singen: "Seems like everybody's got a Price, I wonder how they sleep at night, When the sale Comes first and the truth Comes second, Just stop for a minute and smile." Und dann macht Ben weiter: "Everybody look to the left, everybody look to the right, Can you feel that yeah, We're paying' with love tonight."

Und dann geht die Party erst richtig los.

Die Vorhänge hinter uns werden aufgerissen und dahinter stehen allesamt die an diesem Stück mitgewirkt haben. Schräg hinter mir Layla und Laurel. Auf der anderen Seite Leon. Der Kuss ist schon wieder vergessen. Wir tanzen unsere einstudierte Choreo und ich strecke jeden einzelnen Finger so hoch in die Luft wie ich nur kann.

Wir haben so viele Erinnerungen sammeln können in dieser Zeit wir dieses Theater einstudiert haben. Ich erinnere mich noch an das Vorspiel bei welchem ich vor Ben auf die Knie gefallen bin. Oder wie Layla und ich Ben und Leon dazu überreden mussten. Wie Laurel mich ab und zu, oder fast immer, angezickt hat oder wie schockiert Layla war, dass sie nur einen Satz hatte sagen dürfen.

Und durch all diese Erinnerungen wurde mir klar, wie sehr ich mich dieses Schuljahr verändert und weiterentwickelt habe. Es ist so viel passiert. Gutes sowie schlechtes. Bereuen tue ich allerdings gar nichts. Es ist mein Leben und ich habe gelebt darin. Ich habe Menschen um mich herum die ich liebe. Ich habe Menschen um mich herum bei denen ich anfangs Schuljahr nicht einmal im Traum daran gedacht habe, dass ich sie eines Tages so tief im Herzen tragen würde. Ich habe Verlust ertragen müssen, habe aber andere Menschen zurück gewonnen. Neue Freundschaften geschlossen und mich mit anderen versöhnt.

Und jetzt habe ich tatsächlich das Gefühl, angekommen zu sein.

Es gibt nichts mehr, was ich noch tun müsste. Bis auf etwas. Aber das fällt mir immer noch so schwer.

Das Finale geht auch langsam zu Ende und wir werfen uns in die Schlusspose. Das ganze Publikum verfällt im lauten Beifall und klatsch ganz wild in die Hände. Grösstenteils stehen sie sogar auf. Euphorie strömt durch jeden einzelnen von uns. Layla, Laurel, Leon, sowie auch alle anderen stellen sich zu uns in eine Linie, dass wir uns verbeugen können. Die Belichtung wird im Zuschauerraum auch etwas heller, so dass wir die Gesichter der Leute sehen können. Am Ausgang zu entdecke ich Dr. Carter zusammen mit Lissi, die unsere Vorstellung anscheinend von da oben zugesehen haben.

Mein Blick schweift in die vorderste Reihe zu Grammy und Gramps, die über beide Ohren strahlen vor Freude weiter zu Mam und Dad, die stolz grinsen. Auch Julia steht die Begeisterung ins Gesicht geschrieben und klatscht lauter als alle anderen. Parker, der mir zuzwinkert und Jesse, der irgendetwas Parker zuflüstert. Dann gucke ich nach links und sehe Laylas strahlendem Gesicht entgegen und dann sehe ich nach rechts zu Ben.

Und als ich sein Gesicht von der Seite sehe wird mir alles zu viel und ich breche in Tränen aus...





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