⊱Kapitel 77⊰

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»Bin beschäftigt. Mach dir keine Mühe auf meine Mailbox zu sprechen, ich rufe sowieso nicht zurück.«
Ich fluche laut auf, als sich zum fünften Mal nur Evans Mailbox meldet. Warum reagiert er bloß nicht? Die einzige Erklärung dafür ist, dass er mich weder sehen noch mit mir sprechen möchte und das ist einzig meine Schuld.

Ich atme tief durch und bitte Nici mich zwei Querstraßen entfernt von Evans Elternhaus herauszulassen, damit sie nicht weiß, wohin ich gehe. Obwohl ich ihr vertraue, habe ich nicht vor ein Risiko einzugehen. Ich steige aus, aber Nici hält mich zurück, bevor ich gehen kann.

»Pass auf dich auf«, sagt sie. Hätte sie nicht die ganze Zeit versucht sich an Evan heranzumachen und ihrem Cousin geholfen Rache zu nehmen, hätten wir bestimmt Freundinnen werden können.

»Du auch«, entgegne ich, weil ich ihre Warnung vor Keith mittlerweile ernster nehme, als mir lieb ist. Zudem kann ich die Furcht in Rons Gesicht nicht vergessen, als er von Keith berichtet hat. Ich kenne ihn nicht, aber ich bin nicht so dumm zu glauben, der Knast hätte Keith etwas gelehrt oder ihn auf Gottes Pfad gewiesen. Zumal ich an letzteren selbst nicht glaube.

Als Nici davon fährt, mache ich mich mit nichts als meinem Handy auf den Weg. Meine Schulsachen habe ich Shane mitgegeben und erklärt, dass ich seinen Ratschlag befolgen und mit Evan reden werde. Dass Nici an meiner Seite war hat ihn zwar sichtlich verwundert, aber er hat nicht nachgefragt. Ich werde es ihm später erklären müssen, zumal ich nicht weiß, ob ich Evan wirklich antreffen werde.

In weniger als fünf Minuten stehe ich vor dem Haus, in dem alles begonnen hat. Hier habe ich nicht nur meine erste Party nach dem Malheur mit Zack und der Punschschüssel gefeiert, sondern auch das erste Mal mit Evan gesprochen. Hier habe ich mich über Shane geärgert und bitter geweint.
Nun kommt es mir vor, als wäre das schon Jahre her und ich eine andere Person geworden.

Meine Hand klopft zaghaft an die Tür. Ich weiß, dass jemand da ist. Ein BMW steht in der offen stehenden Doppelgarage, der zwar nicht Evan gehört, aber bestimmt seinem Vater.
Doch es ist nicht William, sondern Evans Stiefmutter Kate, die mir öffnet. Ihr rotes Haar steht in alle Richtungen ab und sie wirkt gestresst. Sofort fühle ich mich unwohl dabei, sie gestört zu haben. Auf ihrem Arm hält sie die kleine Juliette, die bitter weint und brüllt.

»Maggie?« Sie wirkt verwundert, lächelt aber herzlich. Ob sie mich nicht erwartet hat, weil Evan nicht hier ist oder hat er ihr von unserer Trennung berichtet?
Ich räuspere mich. »Tut mir leid für die Störung. Alles in Ordnung?«
»Keine Sorge, du störst nicht. Es freut mich dich zu sehen. Juliette ist leider krank und will sich nicht beruhigen. Ich war gerade auf den Weg zu einem Arzt«, sagt sie mit müden Augen.

»Kann ich etwas tun?«, biete ich mich an, weil Kate so entsetzlich entkräftet aussieht. Doch sie schüttelt den Kopf.

»Schon gut, ich mache mich ohnehin in zwei Minuten auf den Weg. Falls du Evan suchst, er ist oben in seinem Zimmer. Vielleicht kannst du ihn ja dazu überreden, an die frische Luft zu gehen. Er ist gestern Nachmittag aufgetaucht und verkriecht sich seitdem, ohne mit uns zu reden. William macht sich schreckliche Sorgen, aber er traut sich nicht ihn anzusprechen, weil er befürchtet er würde wieder verschwinden. Er ist wirklich glücklich ihn im Haus zu haben.«

Sie bittet mich herein und ich trete ein. Dass sie mich nicht auf meine Beziehung zu Evan anspricht bedeutet, dass sie keine Ahnung hat, dass Evan und ich kein Paar mehr sind. Ich habe nicht vor ihr die Wahrheit zu sagen. Kate drängt mich dazu, zwei Stücke Schokoladenkuchen auf Tellern mit nach oben zu nehmen, die sie in der Küche in Windeseile zurechtmacht. Danach verlässt sie mit Juliette das Haus und ich höre, wie sie wenig später wegfährt.

William ist nicht hier, was bedeutet, dass dieser auf Arbeit ist und Evan und ich allein sind. Tief atme ich durch und steige anschließend die Stufen nach oben. Die Tür zu seinem Zimmer ist nur angelehnt, trotzdem ist es totenstill. Mit dem Kuchen in der Hand kann ich nicht klopfen, deswegen stoße ich die Tür vorsichtig mit dem Fuß auf. Was ich sehe, lässt mein Herz bluten.

Evan liegt rücklings auf seinem Bett. Er trägt eine graue Jogginghose und ein blaues T-Shirt und hat einen tätowierten Arm über seine Augen gezogen. Seine Haare sind zerzaust und alles an ihm strahlt Verbitterung und Mutlosigkeit aus. Tränen steigen in meine Augen, die ich hektisch weg blinzele.

»Evan?« Ich traue mich kaum meine Stimme zu erheben, während ich eintrete und den Kuchen auf dem Schreibtisch abstelle.

Zunächst befürchte ich, dass er mich nicht sehen will und deshalb keine Antwort gibt, doch dann erkenne ich das regelmäßige Heben und Senken seiner Brust. Er schläft. Vorsichtig setze ich mich zu ihm aufs Bett und versuche mir ein paar Sätze zurechtzulegen, aber mir will nicht das Richtige einfallen. Mein Kopf ist wie leer gefegt, jetzt wo ich ihm so nah bin, dass mein Herz automatisch zu rasen beginnt.

Evan bewegt sie ein wenig, wacht aber nicht auf. Als er seinen Arm von seinem Gesicht nimmt, sind die Worte, die ich so verzweifelt gesucht habe, plötzlich da.
Keith ist ein Problem, um das wir uns kümmern müssen. Wenn es dieses »Wir« überhaupt noch gibt.

Ich kann nicht mehr an mich halten und muss ihn berühren. Meine Fingerspitzen zeichnen seine Tattoos nach und ich stelle überrascht fest, dass er davon eine Gänsehaut bekommt. Plötzlich flattern seine Lider und dann kann ich endlich wieder in das atemberaubende Grün seiner Iriden sehen, in das ich mich vom ersten Augenblick an verliebt habe.

»Baby?«, wispert er und greift nach meiner Hand. »Bist du es wirklich?«
Seine Berührung verursacht ein angenehmes Kribbeln in meinem Bauch und mein Spitzname zerstört alle meine schlimmen Befürchtungen, er könne mich hassen.

»Es tut mir leid, Evan«, flüstere ich mit Tränen in den Augen. Ich versuche mich an einem Lächeln, als er sich aufsetzt, spüre aber wie ich scheitere. »Ich habe überreagiert und war zu verletzt, um zu begreifen, dass du die Wahrheit sagst. Ich bin zu oft von den Männern in meiner Umgebung enttäuscht worden, dass ich nicht daran geglaubt habe jemanden zu finden, der es ehrlich mit mir meinen könnte. Und jetzt ist plötzlich alles so kompliziert.«

Zärtlich streichen seine Finger über meine Wangen, wischen vorsichtig die heißen Tränen weg.
»Mir tut es leid. Ich hätte dir eher von Keith erzählen müssen und es nicht Ron überlassen sollen. Dann wäre es nie so weit gekommen«, erwidert er mit nachdenklich gerunzelter Stirn. »Aber ich dachte du würdest gehen, wenn du weißt, dass ich schlimme Dinge getan habe.«

»Ich liebe dich, Evan. Deine Vergangenheit ändert nichts daran.«
»Ich liebe dich mehr als alles andere auf der Welt.«

Ehe ich weiß, wie mir geschieht, zieht er mich nah an seine Brust und ich finde mich auf seinem Schoß wieder. Seine Nase streicht über meine Wange und mir entfährt ein leichtes Seufzen, als sich mein Körper wie ein verlorenes Puzzleteil an seinen schmiegt.

»Ich habe dich vermisst, Baby«, murmelt er und sein Duft hüllt mich vollständig ein.

Es gibt so viel worüber wir sprechen müssen, allem voran Keith. Aber in diesem Moment will ich nur Evans Nähe spüren und dass er mich küsst. Als hätte er meinen Gedanken erahnt, legt er seine weichen Lippen auf meine und seufzt, als seine Zunge meine findet. Ich sehne mich nach mehr und presse mich verzweifelt an ihn, halte mich an Evan fest und schiebe meine Hände unter sein Shirt, während seine warm und sanft über meine Wirbelsäule wandern.

Dieser Moment hätte für immer dauern sollen, doch ein plötzliches Knallen im Untergeschoss lässt uns gehetzt und erschrocken auseinanderfahren.
»Kate ist mit Juliette fortgefahren«, sage ich, während wir uns gemeinsam aufrichten.
»Mein Vater kommt erst in einer Stunde nach Hause«, erwidert er.

Seine Stimme zittert.

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