Chapter 44

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P.o.V. Grell

‚Wir sprechen uns heute Nachmittag.'
Das war das Einzige was ich von ihm behielt, als mein Therapeut den Raum verlassen hatte.
Ich krallte mich an die Bettwäsche und jetzt kam wieder alles hoch.
Das ist einfach nicht fair.
Ich knirschte mit den Zähnen, meine Augen angewinkelt.
So eine scheisse!
Ich stand auf und ging zu meinem Schrank.
Meine Hände suchten nach der schwarzen Cordhose, gefunden drehte ich sie auf links und suchte im rechten Hosenbein nach etwas Metallischem.
Die Tür ging plötzlich auf, drastisch schaute ich nach rechts, verstecke das Stück bei mir.
Es war Mary.
„Oh, entschuldige.. soll ich wieder raus?"
Unwissend stand sie zwischen Tür und Angel.
„Ich wollte sowieso gerade raus gehen."
Ich wischte mir mit den Handbällen über meine nassen Augen, ging an ihr vorbei.
Herr Rica und Herr Revens standen im Dienstzimmer.
Wütend ging ich in die Küche, kramte meine Sachen zusammen und schlug den Weg Richtung Gruppenraum ein.
Ich schloss die Tür und setzte mich ans Keyboard.
Zum Glück war keiner da.
Mit einem Blick zur Seite, zu dem scheiss Therapeuten und dem scheiss Betreuer haute ich in die Tasten.
Es war ein neues Keyboard, ein E-Piano auf Gestell mit allen Tasten.
‚Revolutionary Etude' von Chopin erklang, laut und schallend, kräftig und impulsant.
Damit konnte ich die meiste Kraft auslassen.
Ich hörte wie jemand die Tür öffnete, ich drehte meinen Blick über die rechte Schulter und funkelte ihn an.
Er verließ wieder den Raum.
Verdammte scheiss Klinik und verdammtes scheiss Essen!

Es tropft.
Tropft.
Und tropft.
Der Schlauch der Sonde, die beigefarbene Flüssigkeit traf auf die andere, auf die schon Angesammelte.
In dieser kleinen Plastikkapsel..
Es läuft länger als gewöhnlich.
Das monotone Tropfen hört nicht auf.
Ich saß tiefer als zuvor im Stuhl, mein Blick auf den leeren Teller vor mir ruhend, bei welchem der Tischdienst immer noch nicht versteht, dass ich keinen Teller brauche.
Herr Rica sah zu mir.
Er sah immer zu mir.
Er saß immer bei mir.
Ich starrte zurück.

Mein Entschluss war es, die Ruhepause im Tagesraum zu verbringen.
Es war keiner im Raum.
Es war keiner im Flur.
Nach stundenlangem Anstarren der Sonde, dem Schlauch der aus meiner Nase kommt, fiel mir auf, dass ich das Endstück abnehmen konnte.
Ich überlegte gar nicht, sondern führte das Ende zu meinem Mund und probiere die Flüssigkeit am anderen Ende raus zu saugen.
Nach kurzer Zeit spürte ich die bittere Flüssigkeit in meinem Mund, spuckte sie sogleich in die Pflanze neben mir
Wie automatisch legte sich ein Grinsen um meine Lippen.

Ich tat das gleiche zur Obstpause.
Herr Revens kam nicht.
Ich machte das gleiche am Abend.
Mein Therapeut war nicht da.
Tat das gleiche zur Spätmahlzeit.
Fühlte mich wieder allmächtig.
Es war 21 Uhr.
Unbemerkt schlich ich mich ins große Bad.
Frau Zent bei einer Tagesreflexion steckend und Herr Linebeck, der positive Betreuer mit dem breiten ehrlichen Grinsen und den dummen Witzen, mit den anderen Patienten in der Küche ein Spiel spielend.
Ich schloss die Tür hinter mir ab.
Mein Herz fing an schneller zu klopfen.
Ich legte das Metallstück auf die weiße Bank über dem Waschbecken.
Mein Blick fiel auf die Spiegelung, sah mich an.
Ich sah breiter aus denn je.
Meine Füße leiteten mich zu dem Ganzkörperspiegel, betrachtete mich.
Konnte den Anblick kaum aushalten.
Ich schüttelte meinen Kopf, ich musste mich beeilen.
Mit immer höher werdender Anspannung krempelte ich den Ärmel meines linken Arms hoch.
Schluckend nahm ich das Stück Silber in die Hand, leicht zitternd über meine Haut.
Achtete auf meine Atmung.
Weshalb war ich jetzt so aufgeregt?
Ich drückte es an meine Haut und zog es darüber.
Nach dem ersten Schnitt bekam ich eine leichte Lockerheit.
Ich Schnitt über dieselbe Stelle.
Wieder, wieder und wieder.
Musste mich immer zusammenreißen, am besten nicht hinschauen, Mund bei jedem mal zusammengepresst.
Bis sie immer weiter, immer breiter und immer länger wurde.
Ich ging ein paar Zentimeter tiefer, war schon seit einer Viertelstunde im Bad, was ich nicht bemerkte.
Das Metall und meine Fingerspitzen in Blut getränkt, Handballen und Handgelenk.
Meinen Arm kaum mehr zu erkennen, das weiße Waschbecken verunreinigt.
Alles rot und crimson.
Mittlerweile waren dort sechs Schnitte, jeweils über 10 Zentimeter lang und 2 Zentimeter breit.
Ich schnitt vielleicht nicht viel, aber dafür tief.
Meine Hand wurde taub und ich spürte nicht wie sehr ich das Metall drückte, meine Fingerspitzen schnitten auf.
Alles wurde taub, ich nahm mir einige mitgebrachte Kompressen und setzte mich auf die Lehne der Badewanne.
Achtete auf meine Atmung.
Mein Kopf war heiß.
Jetzt bloß nicht ohnmächtig werden, Grell.. bloß nicht ohnmächtig werden.
Ich kniff die Augen zusammen, Tinnitus in den Ohren.
Nach einigen langen Minuten stand ich auf, nach weiteren 10 hatte ich es endlich geschafft einen Verband um den Arm zu kriegen, musste mit Hilfe meiner Zähne das Ende des Verbandes zuschnüren.
Ich überprüfte drei mal ob ich nicht irgendwo einen Blutfleck übersehen hatte, stopfte den Mülleimer mit Papier voll damit man nicht die Verpackung von Adaptic und Kompressen sehen konnte.
Ich schaute in den Spiegel.
Ein wenig blass.
Langsam drehte ich das Schloss zur Seite und schielte in den Flur.
Da war keiner.
Ich ging raus in den Raum in welchem die Handtücher lagen, falls mich jetzt jemand sieht hätte ich eine kleine Ausrede wo ich denn gewesen bin.
Ich schlug den Weg zur Küche ein, öffnete die Glastür, schon von draußen hörte man das schallende Gelächter.
„Herr Linebeck, ich würde gerne die Handtücher in mein Zimmer legen."
„Na klaaar."
Meinte er und stand auf, nickte und begleitete mich zu mein Raum Nummer 8, ich deponierte die Tücher und ging wieder.
Musste mich anstrengen nicht umzukippen.
„Und was machst du jetzt?"
Ich zuckte mit den Schultern.
„Ich bin im Gruppenraum."
„An deinen Wochenzielen hast du auch schon gearbeitet?"
Ich nickte.
„Schade."
Grinste er.
„Wäre doch toll wenn du mal nicht alles perfekt machen würdest."
Ich ging in den Gruppenraum, doch gerade davor Einzutreten betrat Herr Revens die Station.
„Grell!"
Sagte er.
„Guten Abend, schön dich direkt zu sehen."
Ich drehte mich zu ihm.
„Es tut mir leid, dass ich erst so spät komme."
„Haben sie nicht schon Feierabend?"
Warf ich ein.
„Eigentlich schon, doch ich musste noch mal herkommen, und da kam es doch gelegen, dass wir uns treffen könnten."
Ich nickte.
Den ganzen Tag wollte ich, dass er kommt.
Den ganzen Tag hoffte ich, er würde kommen.
Er sagte Herrn Linebeck Bescheid und wir gingen dieses Mal nicht in das Zimmer von Frau Jaden, sondern in seins.
Es war das vor Station 3.
Wir traten ein.
Links an der Wand war eine Dartscheibe, darunter ein Raumteiler.
Rechts die allbekannten roten Stühle, hinten vor dem Fenster der Schreibtisch.
Überall standen Bücher, aber auch kleine Figuren, Spielzeug und sogar einen blauer großer Sandsack.
Auf seinen Regalen standen viele Kleinigkeiten.
Ich setzte mich auf den roten Stuhl, Aussicht zum Fenster, welches den Gang zur Station 2 hatte.
„Wie geht es dir?"
Ich schaute in die Ferne.
„Grell?"
Ich sah zu ihm.
„..gut."
Er summte skeptisch, lächelte leicht
„Bist du immer noch sehr aufgeregt über das Thema der Sondierung?"
Mein Blick klebte am Fenster.
„Kann schon sein."
Jetzt wieder unten.
Meine Fingerspitzen der rechten Hand tippten an die Tischkante.
Die Linken bewegte ich kaum, es tat weh, zog am Arm.
„Wie war dein Tag?"
Ich antwortete nicht.
Schaute nach oben, sah den Raum an.
„Warum ist Ihr Zimmer so vollgestellt mit allen möglichen Dingen?"
Meine Sicht wurde schwummerig, schon über den Weg hierher.
„Sogar ein kleiner roter Tresor steht auf dem Tisch. Haben sie etwa etwas zu verheimlichen?"
„Du siehst blass aus."
Mein Tippen wurden lauter.
„Das bilden Sie sich ein."
Mein Blick war zur Seite gerichtet.
„..mein Tag war enttäuschend."
Fing ich an.
„Scheisse. Nichts hergebend. Ich dachte sie würden heute Nachmittag kommen,"
Ich sah zu ihm.
„Tja."
Mein Blick wieder nach unten, er hörte einfach nur zu, zupfte an meinem Hemd.
„Ich dachte es wird ein langweiliger Tag wie immer, aber nein. Ich habe eine schlechte Nachricht bekommen. ..wobei, das ist eigentlich ‚das wie immer'."
Ich wollte nicht weiterreden.
„Ist die schlechte Nachricht deine Gewichtsabnahme oder die Erhöhung der Sondierung?"
„Was denken Sie wohl, hm? War das eine rhetorische Frage oder sind sie einfach zu doof?"
Er lächelte etwas, ein wenig Freude ein wenig Sorge.
Das machte mich sauer.
„Erzähl mir mehr, was war noch schlimm?"
Ich verharrte.
„Es kann sich nicht nur alles aufstauen, irgendwann muss es raus."
„Es ist schon draußen."
Er legte seinen Kopf leicht schräg.
„Das glaube ich nicht."
Er rückte näher an den Tisch, schob den eben angesprochenen roten Tresor in die Mitte.
„Jetzt ein mal wegschauen damit du den Code nicht siehst."
Spaßte er.
Geöffnet drehte er das Teil um, ganz viele Edelsteine kamen raus, prallten auf den hölzernen Tisch.
„Ich mache da ein Spiel, eine Aufgabe, mit den jüngeren Shinigami,"
Fing er an.
„Ich sage ihnen, sie sollen ihre Arme ausstrecken, nicht einknicken, und die Hände öffnen."
Er legte die Steine hin und her.
„Dann lege ich nach und nach die hier,"
Er deutete auf sie.
„Ihnen in die Hände. ..Jeder Stein spiegelt eine Sorge ab, einen schlechten Gedanken, eine Horrorvision. Es wird immer schwerer und schwerer, und anfängliche Steine werden von anderen überdeckt und man sieht sie kaum mehr, doch sie sind trotzdem da."
Er machte eine Pause.
„Ich glaube, du würdest deine Arme ganz lange nicht einknicken."

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