Kapitel 20

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Nach der Episode in der Sporthalle, wurde mir immer klarer, dass es Tendo ähnlich wie mir ging, und, dass wir unsere immer größer werdende Zuneigung zueinander nicht mehr leugnen konnten. Zu Anfang wollte ich ihn mir aus dem Kopf schlagen, ich kämpfte mit mir selbst und meinem Inneren, stets auf der Suche nach Gründen, die eine Abneigung gegen ihn rechtfertigen könnten. So sehr ich auch versuchte an den Abenden, die ich wie ein einsamer Wolf in der Mitte der Tribüne der Trainingshalle des Volleyball-Clubs verbrachte, an etwas anderes als meine Gefühle und meine Haltung zu Tendo zu denken, es gelang mir kein einziges Mal. Wie gerne wäre ich in Ghandi-Manier in mir bislang geistig unzugängliche Welten abgetaucht, und hätte mich mit den höheren Fragen unseres Daseins beschäftigt, es war mir partout nicht möglich, meine Gedanken auch nur für eine einzige Minute von meiner Beziehung zu ihm auf etwas anderes zu lenken. Die einsame Wölfin, die Hüterin der Tribüne, welche von der Anhöhe auf ihr Rudel hinunter sieht, heulte innerlich bei jeder Trainingseinheit über ihre Unsicherheit und die Unbestimmtheit ihrer Emotionen dem Mond entgegen, vergeblich auf eine Antwort hoffend. Ich schrieb sogar eine Pro-Und-Kontra-Liste und versuchte die negativen Dinge und Eigenschaften, die mir bis jetzt an ihm aufgefallen waren überwiegen zu lassen. Die positiven, die in meinem Herzen viel schwerer wogen als seine weniger anziehenden Eigenschaften, überging ich galant, in der Hoffnung nicht zu bemerken, dass ich mich die ganze Zeit über selbst anlog.

Zum Beispiel versuchte ich mich krampfhaft darauf zu versteifen, dass irgendetwas mit Tendo nicht stimmte. Alle Mädchen in meiner Klasse bemitleideten mich, da ich diejenige war, die neben ihm sitzen musste. Immer wieder wurden mir von ihnen neue Gerüchte über ihn zugetragen, dass er ein Dämon oder zumindest von einem besessen sei, dass er anscheinend mal aus einer Anstalt ausgebrochen war, dass er nachts immer herumschleiche und so weiter und so fort. Anfangs versuchte ich diesem unglaublich lächerlichen Gerede doch tatsächlich Beachtung zu schenken, befragte meine Klassenkameraden ob sie dafür denn auch Beweise hätten oder ob sie denn schonmal dabei erwischt hätten, vergebens. Alle hatten das nur von einem anderen gehört, der hatte es von dem Freund seiner besten Freundin, die es von ihrem Bruder, der es von seiner Tante, und die es von ihrem Hautarzt. Die Verflechtungen der Gerüchteketten waren elendig lang, kaum nachvollziehbar und so vage, dass sogar eine in einer dicken Nebelsuppe schwimmende Landstraße ohne Bodenmarkierungen leichter zu erkennen war als die Verbindungen, die meine Klassenkameraden geknüpft hatten. Tatsächlich sah ich Tendo eher als einen tief drinnen wohl überlegten Menschen, der durchaus wusste, was er wollte, sich aber lieber hinter seiner abschreckenden Fassade versteckte, um nicht jemandem die Gelegenheit zu geben ihn zu verletzten. Seine Art mit anderen umzugehen, die mich zugegeben am Anfang auch verwundert und abgeschreckt hatte, kam mir vor wie eine Tarnkappe, ein Panzer oder ein Regenschirm, der ihn nicht im Regen der menschlichen Grausamkeiten stehen ließ, sondern ihn gegen diese abschirmte und seine Persönlichkeit somit metaphorisch trocken hielt. Er durchschaute andere äußert schnell und las Menschen so, wie andere Bücher lesen, das war mir im Training an ihm aufgefallen, da er seine berühmten Guess-Blocks so unerwartete und willkürlich setzte, dass ihr Gelingen oft an Zauberei grenzte. Ich bewunderte ihn dafür ungemein. Mir war nichtsdestotrotz schnell klar, dass mit Tendo alles in bester Ordnung war, da meine beinahe obsessiven Versuche mich vom Gegenteil zu überzeugen jedes Mal in eine Sackgasse führten, also gab ich dieses Kontra verhältnismäßig schnell auf.

Tausend andere Dinge wollte ich mir vorstellen, die ihn zu einer schlechten Wahl für mich machen sollten, nicht wert meine Zeit und meine Gefühle für sie aufzuwenden. Bei jedem weiteren negativen Punkt scheiterte ich kläglich, begab ich mich in die nähere Beobachterposition und versuchte alles aus einem analytischen Blickwinkel zu betrachten

In Wahrheit fiel mir nach gar nicht so langer Zeit auf, dass ich Tendo gar nicht gut genug kannte um mir zu erlauben mir eine Meinung über ihn zu bilden, aber dieser Ausdruck der persönlichen Distanzierung von überschnellen Meinungen über jemanden ist nur eine weitere moralapostolische Denkweise, die sicher jeder schon einmal von sich gegeben hat, aber unterbewusst genau niemand einhält. Nachdem ich meine Pro-Und-Kontra-Liste erstellt hatte und mich ausführlich mit jedem sich auf ihr befindlichen Punkt auseinandergesetzt hatte, wurde mir erst ihre Lächerlichkeit bewusst, da ich noch nie wirklich die Gelegenheit hatte, mir ein detailliertes Bild von ihm zu machen. Das, das ich jetzt vor Augen hatte, oder besser gesagt, anhand dessen ich versuchte seine Person zu analysieren, war so profan und von so mangelhafter Qualität, wie verpixelte Bilder. Oder besser gesagt, sahen meine Abbildungen die ich von Tendos Charakter hatte so aus, wie jene, bei denen die Bewegung der Kamera im Moment des Fotos die Konturen verschwimmen ließ, sodass kein einheitliches Bildnis erkennbar war. Ich bewegte mich zu schnell an ihm vorbei um sein wahres Ich vor die Linse bekommen und in scharfer Form erfassen zu können.

Was aber viel wichtiger war, war die Tatsache, dass ich mich trotz meiner mangelnden Kenntnis seiner Person nicht von ihm losreißen konnte, im Gegenteil fühlte ich mich so sehr von ihm angezogen, dass ich mehr von ihm wissen wollte. Diese Wochen waren ein solches Hin und Her, in denen ich immerzu im Dialog mit mir selber stand, auf der Suche nach einer halbwegs verwertbaren Antwort.

Es gab jedoch tatsächlich einen Grund, der zwar mit Tendo persönlich nichts zu tun hatte, jedoch schwerer wog als alle seinen vermeintlich schlechten Eigenschaften. Dieser Grund hatte einen Namen: Wakatoshi Ushijima. Mein Cousin hatte mir schon am nach dem ersten Mal, an dem ich zu der Gruppe dazugestoßen war unterschwellig, aber keinesfalls undeutlich, klar gemacht, dass alle seine Kameraden sich jetzt auf den Vorentscheid zu konzentrieren hatten und ihr Fokus auf diesen keine Ablenkung durch mich vertragen konnte. Gleichzeitig war ich mir sicher, dass er im Ernstfall nicht wissen würde, für wen er sich entscheiden sollte, würde eine solche Beziehungen auf einen Engpass oder ein Hindernis treffen. Volleyball und seine Mannschaft, der damit verbundene Erfolg und die Türen, die dieser zu öffnen versprach, bedeuteten ihm alles. Andererseits war ich seine Cousine, sein Blut, seine Familie, beinahe so etwas wie seine Schwester, auf die er aufpassen sollte und auch wollte. Er bemühte sich mir meinen Start an dieser Schule leichter zu machen, und auch sein ständiges Ausfragen, das mir am Anfang unheimlich lästig war, stellte sich mir nach einiger Zeit als eine Art, seine Zuneigung zu mir zu zeigen, dar. Wakatoshi sprach mit anderen nicht fiel und seine einzig wirklichen Freunde hatte er im Volleyball-Club, für den er im Ernstfall so einiges getan hätte, aber ich war nun mal ich, die ihm auf einer ganz anderen Ebene alles bedeutete, und für die er ohne Zweifel mindestens genauso weit gehen würde. An diesem Punkt sollte ich jedoch feststellen, dass ich es nie und nimmer von ihm verlangt hätte in einem Disput zwischen zwei Parteien, die ihm beide viel bedeuteten, Stellung zu beziehen oder gar eine Seite zu wählen, das wäre grausam gewesen. Außerdem war ich alt genug um meine Schlachten selbst zu führen, ich brauchte niemanden der für mich seine Stimme, oder gar seine Fäuste erhob um sie sprechen zu lassen, alles Gegenteilige hätte ich als persönliche Schwäche meinerseits und Betrug meiner individuellen Werte betrachtet.

All meine Fragen sollten ca. zwei Wochen vor Beginn des Vorentscheids Antworten erhalten. Es war an ein regnerischer Donnerstagabend.

Sakura - A Haikyu!! FanFictionWo Geschichten leben. Entdecke jetzt