Kapitel 38

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Gegen vier Uhr morgens wurde ich von einem Arm geweckt, der sich von hinten um mich schlang und mich näher an eine gut trainierte sich auf und ab bewegende Brust zog. Satori stöhnte im Schlaf kurz auf, ich war nun hell wach.

Wir lagen auf dem Wohnzimmerboden, beide nur noch in Unterwäsche, auf einem Meer aus Kissen und Decken. Es war stockdunkle, das einzig vorhandene Licht spendete eine Stehlampe die in der Ecke stand wie ein großer hagerer Butler mit Kerze in einem altehrwürdigen englischen Herrenhaus. Die Glühbirne hatte schon bessere Zeiten erlebt, die Intensität des Lichts hatte unverkennbar über die Jahre hinweg abgenommen, alles was der müde und erschöpfte Lichtkegel noch spenden konnte, war ein warmes, wohliges Licht, wie man es durch die getönten Scheiben einer Sonnenbrille wahrnimmt. Vielleicht war gerade dieses Bild die beste Metapher um meine Beziehung zu Satori zu beschreiben: Ich sah die Welt anders, durch die getönten Scheiben einer Sonnenbrille hindurch, die Gläser, die die Brille fasste, waren aber nicht rosarot, sodass ich alles nur noch verklärt wahrgenommen hätte.

Durch eine rosarote Brille sieht man die Welt am Anfang wie ein Wunderland, in das man durch das Erdloch unter einer alten Eiche gefallen ist. Alles um einen herum scheint durch die Person, die sie einem aufgesetzt hat, ästhetisch, perfekt, in sich vollkommen. Fast scheint es so, als könnte nichts den Blick trüben, wenn man durch diese Brille sieht, nichts einem die schöne Aussicht verderben, alles strahlt. Das Ambiente, der Stich der Farbe von blühenden Pfingstrosen, all das schmeichelt unseren Sinnen, wir drohen uns ihn dieser Illusion zu verlieren, und damit von unseren Sinnen und dem Blick für das Wesentliche befreit zu werden.
Und dann muss man aufwachen und erkennen, dass die rosa getönten Brillengläser einen farbenblind werden ließen.... Durch welchen Grund auch immer, wird man bewegt die Brille abzusetzen, ja man reißt sie sich förmlich aus dem Gesicht, und die Farben, die die Welt um uns herum eigentlich trägt, drohen unsere von der Weichheit der Gläser getrübten und verwöhnten Augen zu verbrennen. Einige Beziehungen überleben diesen Punkt, die Liebe und die Zuneigung werden stärker dadurch, und sind fähig den Wandel, und die Flüchtigkeit des Momentums zu überdauern. Einige gehen kläglich daran zugrunde, vor allem die zwischen jungen Leuten, die sich selbst noch finden müssen, und erst (mehr oder weniger brutal) herausfinden müssen, wer sie sind, oder besser gesagt, wer sie überhaupt sein wollen.
Satoris und meine Beziehung unterschied sich aber von diesen in einem wesentlichen Punkt: Unsere Brillengläser waren nicht rosarot. Die Farbe, in die unsere Welt, unsere Sicht und alles um uns herum getaucht wurde, war ein Ton, der sich irgendwo zwischen Sonnenblumen-Gelb und dem frischem Milchkaffeez den man in einer kleinen Spielunke in einer der Gassen in Trastevere, Rom, serviert bekommt. Das Gestell der Brille stellte ich mir filigran und hauchzart vor, mit runden Gläsern, in einem zarten Goldton gehalten, so wie man sie um 10 Pfund bei Zara bekommt. Keine protzige LaCroix- oder Dior-Brille, die einem schon weitem ins Gesicht schreit "Ich bin ja so besonders!", aber nicht fähig ist die Launen der Mode und der Zeit zu überdauern. Etwas zeitloses, schlichtes und elegantes, das alles überdauern und überleben kann.
Ich nahm alles anders wahr durch ihn, und hatte einen veränderten Blickwinkel auf die Dinge, das stimmte schon, aber unsere Zuneigung drohte nicht mir meine Sicht zu verklären, zu verzerren, oder gar auf den Kopf zu stellen. Er machte es nicht nur von Zeit zu Zeit angenehmer zu leben, sondern verschönert mein Dasein immerzu, auch wenn er nicht da war.

Langsam setzte ich mich aufrecht hin, und sah auf die Wanduhr: Kurz nach vier. Eigentlich hätte ich Satori aufwecken sollen, damit er in sein Zimmer ging und seinem Zimmergenossen Nakamura nicht neuen Stoff zum Quasseln geben würde. Etwas in mir ließ mich jedoch inne halten, und so ließ ich meinen Blick auf dem schlafenden Rotschopf ruhend. Seine rechte Hand lag noch immer auf meinem Oberschenkel, ihre Finger zuckten von Zeit zu Zeit, ein Zeichen dafür, dass er gerade träumte. Ich begann ihn zu streicheln, ihn mir genauer anzusehen, und mir in meinem haptischen Gedächtnis einzuprägen, wie sich sein Körper in meinen Händen anfühlte. Langsam und bedächtig, wie ein Mönch tief in seinem Gebet, fuhren meine Hände auf und ab, nach links und rechts. Ich seufzte, und spähte durch die Raff-Rollos vor meinem Wohnzimmerfenster. Der Himmel war in dieser Nacht bewölkt, Sterne konnte man kaum erkennen. Behutsam legte ich Satoris Hand auf ein Kissen und stand auf um zum Fenster zu gehen. Als würde ich einen Canossa-Gang auf mich nehmen, schritt ich zum Fenster, und schob mit meinen Fingern die dünnen Plättchen der Verdunkelung auseinander: Alles schwarz, einzig und allein die Laternen am Rand des Schotterwegs leuchteten vergeblich gegen die Dunkelheit an.
Ich spürte eine Hand die sich auf meine Taille legte, und ein Kinn, das sich auf meiner Schulter niederließ.

"Tut mir leid, hab ich dich aufgeweckt?", fragte ich, als ich mich umwandte. Müde rieb Satori sich die Augen und gähnte herzhaft. "Schon in Ordnung. Was treibst du denn? Ist alles gut?"

"Ja, mach dir keine Sorgen. Ich bin nur kurz aufgewacht und wollte mir die Sterne ansehen, aber da habe ich wohl heute kein Glück." Sachte schob er mich beiseite und spähte nach draußen. Dann trat er wieder hinter mich, und sagte: "Wenn dir schon der Himmel seine Sterne nicht zeigen will, dann will ich dir ein paar funkelnde Momente schenken." Ich verstand nicht und sah ihn fragend an. Satori küsste mich, nahm mein Gesicht zwischen seine Hände und führte mich küssender Weise auf das Sofa. Dann brach er den Kuss, und ging zu meinem Regal um mein liebstes Buch hervor zu holen: "Emma" von Jane Austen. Viele würden "Stolz und Vorurteil" als ihr raffiniertestes Werk bezeichnen, ich hingegen, vergötterte schon immer die Heldin, die so gar nicht in das Schema ihrer sonstigen Roman-Charaktere passte: Emma Woodhouse. Verdutzt sah ich Satori an und fragte beinahe entgeistert: "Warum greifst du ausgerechnet nach diesem?" Die Müdigkeit war nun gänzlich aus seinem Gesicht verschwunden, er sah mir eindringlich in die Augen und antwortete: "Als ich die Arbeitsblätter gemacht habe, und vorgab meine volle Konzentration in die Aufgabe zu investieren, habe ich dich vielleicht eine ganz kurze Weile lang beobachtet. Du hast dieses Buch gelesen, und sahst dabei so amüsiert und zufrieden aus, dass ich mir schon dachte, dass es was besonderes sein muss. Außerdem hast du in Englisch mal davon gesprochen, als dich Frau Akayama nach deinem liebsten englischen Autor gefragt hat, und du, ach wie heißt sie... Ach ja, Jane Austen, genannt hat, preschte sie gleich mit 'Urteil und Eitelkeit' oder wie auch immer das heißt vor. Du hast dann ganz leise nur etwas in der Art wie 'Emma' oder 'Elma',  irgendetwas in die Richtung, geflüstert, und als ich das Buch jetzt gesehen habe, erkannte ich den Titel." Gerührt sah ich ihn an, so viel Aufmerksamkeit hätte ich diesem ruhelosen Energiebündel gar nicht zugetraut. Ich nickte nur und bestätigte alles, außer dem falschen Buchtitel.
Er setzte sich neben mich, und ich legte meinen Kopf in seinen Schoß, dann begann er doch tatsächlich mir vorzulesen (das Buch war übrigens auf Japanisch, nur um etwaige Verwirrungen zu vermeiden). Wirklich und wahrhaftig: Er las mir vor, aus einem Liebesroman, einem Literaturklassiker! Satori, der der immer nur Shonen-Manga las und den ich noch nie mit etwas anderem als einem Comic-Heft gesehen hatte, las mir aus einem weltberühmten Werk einer englischen Literatin vor.

Meine aufgeweckte Euphorie hielt mich jedoch nicht lange wach, denn schon nach zwei Kapitel spürte ich meine Lider schwerer werden. Das letzte, das ich hörte, war ein geflüstertes "Man braucht keine Sterne, wenn man dir vorliest und das Licht in deinen Augen funkeln sehen kann. Gute Nacht, Sakura."

Liebe Leserschaft,

heute ein ziemlich schnulziges Kapitel, hoffe es gefällt trotzdem. Es ist übrigens inspiriert von einem wirklich schönen Song von Monsta X, "Someone's Someone", den ich momentan auf Dauerschleife höre. Heute war ich einfach mal in der Stimmung so etwas zu schreiben (Die Hepatitis-Impfung hat mich richtig K.O. geschlagen), bald kommt wieder mehr richtige Handlung. ;)

Ich wünsche euch einen schönen restlichen 19. Mai, bleibt gesund und macht es gut :),

G. <3

[P.S.: "Emma" ist wirklich schön, das Buch hat für mich einen ganz besonderen emotionalen Wert, vielleicht fühlt sich jemand inspiriert es mal zu lesen ;) ]

Sakura - A Haikyu!! FanFictionWo Geschichten leben. Entdecke jetzt