Kapitel 53

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Ich habe es immer gehasst Menschen direkt in die Augen zu sehen, es gab mir das Gefühl, als würden sie mich durchschauen, mir meine gesellschaftliche Maske herunterreißen und mit einem direkten Blick in meine Pupillen genau wissen, wie es in meinem Inneren aussah. Natürlich wusste ich, dass es ausgesprochen unhöflich war jemandem nicht in die Augen zu sehen wenn man mit ihm spricht, und es wurde mir von klein auf eingetrichtert meinem Gegenüber gefälligst in die Augen zu blicken, wenn er das Wort an mich richtete. In meinem Inneren gab es jedoch eine Art Würgreflex, der sich immer dann meldete, wenn mich jemand mit seinen Blicken in meinen Pupillen zu kitzeln schien: Ich wollte mich nach vorne krümmen und den Boden anstarren, damit nur der Boden mein wahres Ich, meine Ängste, Bedenken und mein wahres Selbst sehen konnte. Der Boden war nicht nachtragend, im Gegenteil, er duldete es immerhin schon seit Anbeginn der Zeit dass wir auf ihm herumlatschten, ihn durch unsere unnötigen Fehden mit Blut tränkten, und unsere geschmackslosen Kaugummis auf ihm deponierten, er würde mir als meine Schwächen, Ängste und mein maskenloses und ungeschminktes Selbst verzeihen.
Meine Mitmenschen aber nicht, die Gesellschaft sogar noch weniger. Ich hatte zu funktionieren, mir tagsüber eine Fratze aufzusetzen, mit der ich alle, mich eingenommen, hinters Licht führte, an manchen Tagen, konnte ich mich selbst nicht mehr im Spiegel betrachten, ich konnte nur noch die Grimasse, die sich mir in mein Antlitz zu brennen schien, sehen. Was dahinter war, offenbarte ich mir nicht mehr, denen um mich herum schon gar nicht. So war es auch an diesem Nachmittag, ich konnte ihm nicht in die Augen sehen, fühlte mich durchschaut, ertappt und entblößt.

"Sakura....", sagte er, als er mich mit stoischer Miene vom Türrahmen aus ansah, und ich brachte es nicht fertig ihm ins Gesicht zu sehen. Mein Blick klebte an der kahlen, nackten Wand, flehte sie an mich aus diesem Alptraum-Szenario aufwachen zu lassen, ich bekam aber keine Antwort.

Satori hatte inne gehalten und drehte seinen Kopf in einer mechanischer Weise, die mich an den Blechmann aus der Geschichte "Der Zauberer von Oz" erinnerte, in Richtung des Türrahmens.

"Wakatoshi ich-..", setzte er an.

"Versuch gar nicht es zu erklären", sichtlich wütend fiel mein Cousin ihm harsch ins Wort.

Ich konnte ihn noch immer nicht ansehen, etwas in mir wehrte sich. Mir kam es so vor, als würde ich ihm alles, was in den letzten Monaten passiert war, preisgeben, würde ich meinen Blick nun heben. Wakatoshis olivgrüne Augen ruhten auf mir, das spürte ich auch ohne hinzusehen. Wie ein Rucksack voller Backsteine lagen sie auf mir, und warteten auf eine Reaktion von meiner Seite. Die Atmosphäre die in diesem Moment im Raum herrschte, kann ich gar nicht mit Worten beschreiben. Einerseits fühlte ich mich ertappt, schuldig, ja gerade zu widerwärtig Wakatoshi, der mir in den letzten Monaten wie ein Bruder zur Seite gestanden war und mir so vieles an meinem Neustart vereinfacht hatte, auf eine solche Weise zu hintergehen. Andererseits war es unheimlich befreiend die Beziehung zwischen Satori und mir endlich publik zu wissen, auch wenn es fatale Folgen haben würde.

Immernoch war es bedrohlich still, bis Wakatoshi das Wort erhob und ruhig, gefasst, aber dennoch bestimmt sagte: "Tendou, ich muss mit dir reden." Das war alles, mehr musste er aber auch nicht sagen.

Satori erhob sich, richtete sich gerade auf und folgte Wakatoshi nach draußen. Sie gingen durch die Tür und die Treppe hinunter, dann verhallten ihre Schritte. Ich blieb alleine zurück.

Mir war es unmöglich zu weinen, keine einzige Träne wollte sich blicken lassen, sie schienen sich weiterhin verstecken zu wollen, jetzt war noch kein Grund da, der es gerechtfertigt hätte zu weinen. Innerlich malte ich mir die verschiedensten Szenarien aus: Was wenn es für Wakatoshi im Endeffekt doch nicht so schlimm sein würde? Durfte ich an so einen glimpflichen Ausgang der Geschichte überhaupt einen Gedanken verschwenden? Oder würde er ausrasten, sowohl mir als auch Satori den Kopf abreißen? Was würde aus dem Team werden? Gab es eine reelle Chance, dass Wakatoshi nicht rasend vor Wut und Enttäuschung war? Und am wichtigsten: War das das Ende der Beziehung von Satori und mir?
Ich ballte meine Fäuste, hob meinen Blick und atmete tief durch, bevor ich einen animalischen Schrei von mir gab. Alles um mich herum schien zu zittern, in meinem Kopf brachen alle Wände, und meine gedankliche Akropolis fiel in sich zusammen. Bis mir die Puste ausging schrie ich, vor Verzweiflung, Schmerz und Befreiung, es war mir gleichgültig, wer mich hörte oder hören könnte, geschweige denn was für Folgen mein Verhalten haben würde. Alles was für mich in diesem Moment zählte, war meine Sorge um Satoris und meine Beziehung und mein bislang so gutes Verhältnis zu meinem Cousin, das unter den Trümmern der in meinem Kopf eingestürzten Mauern mit eingeschlagenem Kopf lag. Die herabfallenden Steine hatten es niedergestreckt, es atmete nicht mehr.

Keine zehn Sekunden nachdem mein Schrei verklungen war, hörte ich eine in Eile auf- und zu schlagende Tür und Shirabu streckte besorgt seinen Kopf durch die Tür. Mittlerweile kniete ich auf dem Boden, hatte die Augen geschlossen und meinen Kopf zur Decke gehoben. Heftig atmend hob und senkte sich meine Brust, als Shirabu sich mir näherte und zaghaft fragte: "Garce? Ist alles in Ordnung?" Keine Antwort. Ich hielt meinen Kopf weiter der Decke entgegen, mein Körper begann zu zittern. Nun stach auch Goshiki zur Tür herein und rief: "Grace ist alles in Ordnung? Warum schreist du denn so?" Auch ihm gab ich keine Antwort und starrte nur weiterhin mit geschlossenen Augen nach oben. Eine Weile lang blieben sie einfach nur stehen, keiner sagte ein Wort, man hätte wohl ein Stecknadel zu Boden fallen hören können. Dann spürte ich die Vibration des Bodens und zaghafte Schritte, die sich auf mich zubewegten. Shirabu kniete sich vor mich hin, nahm meinen Kopf zwischen seine Hände und senkte ihn so weit, bis er auf Augenhöhe mit ihm war. Langsam öffnete ich meine Augen und blinzelte ihn an. "Meine Güte du bist ja total blass! Bist du krank? Ist dir schlecht geht es dir gut?", fragte er, als er mich besorgt ansah. Goshiki trat hinter ihn, musterte mein Gesicht und fügte hinzu: "Du siehst wirklich nicht gut aus... Willst du was trinken oder essen? Oder sollen wir die Schwester von der Krankenstation rufen?" Keiner der beiden erhielt eine Antwort, es herrschte Stille.

Wir schwiegen eine lange Zeit, sie spürten vermutlich, dass etwas ernstes vorgefallen sein musste, denn keiner der beiden hackte weiter nach. Sie blieben einfach nur neben mir sitzen, Goshiki holte mir ein Glas Wasser und Shirabu warf mir eine Decke über meine zusammengekrümmten Schultern. Wie ein Häufchen Elend saß ich auf dem Fußboden, die Kehle trocken und zugeschnürt, mein Kopf hämmernd von all den Gedanken die in meinem Oberstübchen einen flotten Stepptanz aufzuführen schienen. Nach einigen Minuten legte ich mich auf den Boden, der Versuch Shirabus mir ein Kissen unter den Kopf zu schieben misslang, da ich es von mir wegschob und meinen Kopf mit einem dumpfen Knall auf den unbeheizten Laminatboden niederließ. Wie ein Baby rollte ich mich zusammen, schwieg, atmete und dachte nach.

Mir kam es vor als wären sie Stunden lang weggewesen, als Wakatoshi nach etwa zwanzig Minuten wieder in meinem Zimmer auftauchte. "Was macht ihr denn hier?", fragte er meine beiden Krankenschwestern. Stutzig sahen sie ihn an, Goshiki antwortete ihm: "Na, also Grace geht es nicht so gut, sie hat geschrien und da wir fürsorgliche Nachbarn sind, wollten wir nach ihr sehen... Ushijima, weißt du was mit ihr los ist?"

"Danke für eure Hilfe, aber ihr müsst jetzt gehen. Sakura, kommst du bitte mit nach unten?"

Der Erst- und der Zweitklässler sahen sich verdutzt an und Shirabu fragte: "Wen meinst du mit Sakura?"

Zum ersten Mal seit einer halben Stunde öffnete ich meinen Mund und krächzte: "Mich." Dann warf ich die Decke ab, schlüpfte in meine Schuhe und folgte Wakatoshi nach draußen vor die Eingangstür des Wohnheims. Es begann dunkel zu werden und dicke Regentropen prasselten vom Himmel, ganz wie an dem Tag, an dem Satori und ich uns das erste Mal geküsst hatten.

Sakura - A Haikyu!! FanFictionWo Geschichten leben. Entdecke jetzt