Kapitel 60

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Grace' PoV - Timeskip

Um mich herum waren unzählige Menschen, ich fühlte mich, als würde ich in einem Meer aus ihnen Schwimmen, in den Fluten der Massen ohne Gesicht und ohne eigenen Charakter untergehen. Eine Kraft, die sich mir bisher noch nie zu erkennen gegeben hatte, von deren Existenz ich nie auch nur etwas geahnt hätte, schien mich ins innere der Menge zu ziehen, in das Auge des Sturms, die trichterförmige Spitze eines Strudels. Keiner hier kannte mich, ich hatte noch niemanden getroffen, den ich auch nur einmal zuvor gesehen hatte, alles und jeder hier war mir gänzlich fremd, genauso wie ich. Es tat so gut unterzugehen.

Die Ränder der Menge wurden von leuchtenden Neonschildern, die mit ihrem hektischen Blinken und den grellen Lichtern einem Epileptiker das Fürchten gelehrt hätte, Lampions mit schwarzen Schriftzeichen und gut besuchten Läden, Restaurants und diversen anderen Etablissements gesäumt. Alles um mich herum lebte, alles atmete, scheute sich keine Sekunde davor jedes auch nur im entferntesten erdenkliche Vitalzeichen von sich zu geben. Die verschiedenen Gerüche, die aus den Restaurants, Bars und Garküchen kamen, vermischten sich im Zentrum der Straße, die einer der Hauptschlagadern der Stadt bildete. Durch sie floss, das Blut Tokyos, oder besser gesagt das Blut jeder Stadt: die Menschen. Einheimische in ihrer Arbeits- oder Freizeitkleidung, Touristen mit schaurig unästhetischen Trackingsandalen und den noch viel grausameren Hawaiihemden, bewaffnet mit einer Nikon, einem Reiseführer und dem japanisch Wörterbuch, das sie sich im Flieger angesehen hatten, von dem sie aber kein einziges Wort auch nur ansatzweise verstanden, und natürlich Geschäftsleute, die Herren in teuren Anzügen von Hugo Boss, Tommy Hilfiger, oder, wenn sie zu den Vertretern irgendwelcher Jaebol-Firmen gehörten, Tom Ford, Hedi Slimane und Armani, die Damen hielten sich in Hosenanzügen, Kleidern und Kostümen, die Preise schwankten auch hier und es war von Versace, YSL bis hin zu den H&M-Kleidern von der Stange absolut alles dabei.

Ich befand mich in Kapukicho, Shinjuku, dem Rotlicht- und Ausgehviertel Tokyos. Hier gab es so viel zu sehen, zu entdecken und zu beobachten, dass ich nicht weiß, wo ich mit dem Erzählen und Beschreiben anfangen soll.
Einerseits waren da die wunderbaren Düfte, nach Reis, Soja-Sauce und dem dicken Smog, der seinen langen rauchigen Finger stets über die Dächer von Tokyo zu halten schien, und gegen dessen penetranten Geruch man gezwungen war einen Mundschutz aufzusetzen. Bevor man sich nun wundert, warum um alles in der Welt ich den Geruch von Smog so toll finde, muss ich vorweg nehmen, dass ich selbst nicht genau weiß, was ich an der stinkenden Luft von Großstädten so anziehend finde. Aus einem mir unerfindlichen Grund liebe ich solche Duftnoten, egal ob es nun Benzin, Desinfektionsmittel oder eine hauchzarte Andeutung von Autoabgasen ist.
Andererseits fand ich diese Reizüberflutung, die einem in den reichlich (und das ist die Beschönigung des Jahrhunderts!) gefüllten Straßen zu Teil wurde, einfach nur himmlisch. Die Schilder und grell leuchtenden Neon-Leuchtstoffröhren, die einen an das Bild eines Windows-Sperrbildschirmschoners erinnerten, den man aufgrund seiner übersatten und viel zu grellen Farben eigentlich nicht zu lange ansehen sollte, andernfalls würde man in den Genuss einer fiesen Bindehautentzündung kommen, und dann die Dialoge, die um mich herum geführt wurden, und die unterschiedlichsten Themen behandelten. Mal schimpfte eine alte Frau neben ihrem Mann über die Politik, mal unterhielten sich die jungen Männer am Tisch eines Kaffees über die süße Kellnerin, die gerade dabei war ihnen die nächste Runde an den Tisch zu bringen, und wieder an einem anderen Ort, etwa zehn Meter weiter, konnte man zwei Geschäftsleute mit fleckigen Krawatten über den Aktienkurs plaudern hören.

Ich saß in einem Wickelkleid aus beigem, satinartigen Stoff, auf dem rote Mohnblumen abgebildet waren, in einer der Bars, meine Beine lässig übereinander geschlagen und mit den Plattformabsätzen meiner goldenen Römersandalen gegen den Barhocker klopfend. Der niedliche Bartender brachte mir meinen mittlerweile dritten Cosmopolitan, mich interessierten seine auffordernden Blicke, die mich ganz klar fragte, wo denn mein Hotel war, keinen Deut. In Gedanken war ich, auch wenn die leidenschaftliche Beobachterin in mir versuchte sich an all den Eindrücken aufzuhalten, bei Satori. Ich schaute durch die pinke Flüssigkeit in meinem Martiniglas hindurch auf den spitzen Boden des pyramidenförmigen Trinkbehältnisses und versuchte mich ganz und gar auf den Geschmack nach Grapefruit, Grenadine und Vodka zu konzentrieren, musste mir jedoch eingestehen, dass ich den Cocktail nur deswegen schon dreimal bestellt hatte, weil er mich farblich an Satoris Haare erinnerte. Ein Schluck, zwei Schluck, drei Schluck, auf einmal war das Glas wieder leer. "Noch einen, bitte", sagte ich zum Kellner, der sich mein Glas schnappte und nun schon zum vierten Mal begann das Getränk zu mixen, mein gefälschter Ausweis glühte an diesem Abend heißer als meine Kreditkarte nach einem Einkaufstrip nach Paris.

Sakura - A Haikyu!! FanFictionWo Geschichten leben. Entdecke jetzt