dreaming alone

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Die folgenden Tage werden sehr schwer für mich. Ich kann kaum schlafen. Kaum essen. Oder trinken.
Ich habe die ganze Zeit das Gefühl, dass ich in einer Parallelwelt bin und kriege wenig von meiner Umwelt mit.
Der Tatbestand, der im Raum steht, ist Körperverletzung mit Todesfolge. Mir tun die Jugendlichen irgendwie leid, die nun vor Gericht stehen- aber gleichzeitig möchte ich Gerechtigkeit für Angelina. Immerhin waren Silvesterraketen auf dem kompletten Gelände verboten.
Ich habe erfahren, dass Angelina weder Kinder, noch einen Freund oder Lebensgefährten hatte. Ihre komplette Familie lebt im Ausland, zu der sie anscheinend kaum Kontakt hatte- beide Eltern sind anscheinend schon tot.
Sie tut mir unendlich leid, zu ihrer Beerdigung kommen nur wenige Kollegen.
Ich bin froh, dass ich in ihren letzten Minuten bei ihr war, und dass wir uns im Guten verabschiedet haben.
Ich bin froh, dass ich ihr das Gefühl von einem guten kollegialen Verhältnis wenigstens in ihren letzten Minuten vermitteln konnte.
Ich bin froh, dass sie das Gefühl haben konnte, dass jemand da ist, der sich für sie interessiert und der für sie kämpft.
Und gekämpft habe ich.

Nur nicht genug.

Ich weiß, dass dieser Gedanken eigentlich Quatsch ist- trotzdem kriege ich ihn nicht aus meinem Kopf.
Ich habe keine Lust auf irgendwen- nicht mal auf Alex, der sich wirklich sorgt.
Täglich kommt er zu mir und kocht für mich- wovon ich aber wenig bis gar nichts esse.
Es hat einfach keinen Geschmack für mich- und Appetit habe ich sowieso nicht.
Alex' Angebot, bei mir zu übernachten, schlage ich ebenfalls aus. Ich will einfach nur allein sein. Dass er nicht locker lässt, nervt mich zunehmend- aber auch seine Laune ist nicht prächtig. Er ist ziemlich kühl, wird schnell laut und ist generell sehr gereizt.

Heute habe ich die erste Schicht nach Schützenfest.
Ich fühle mich nicht besonders gut, habe ziemlich abgenommen- und das in wenigen Tagen. Meine Haut ist aschfahl. Meine Augen sind ziemlich stumpf.
Auch Make-Up kann da nur wenig richten.
Ich möchte eigentlich gar nicht fahren, ich fühle mich unsicher. Das Gefühl, Transportführer zu sein, Entscheider, behagt mir nicht.
Ich muss sagen, dass mir die Bilder von Angelina nicht mehr so sehr im Kopf hängen, Alex hatte Recht.
Aber es ist dieses Gefühl von Unsicherheit zurückgeblieben.

Beim Checken des RTWs beäugt Franco mich kritisch und fragt mich, ob ich heute wirklich fahren will.
Ich nicke. Ich brauche die Ablenkung, Zuhause vegetiere ich nur vor mich hin. Alex fährt heute NEF.
Ich erinnere mich, dass ich vor einem Jahr immer ziemlich sehnsüchtig darauf gewartet habe, dass er wieder NEF fährt, da ich seinen Dienstplan noch nicht kannte.
In jeder RTW -Schicht, wenn ich nachalamiert habe, habe ich darauf gehofft, dass Alex aus dem NEF springt.
Ich muss grinsen.

Da dachte ich noch, das würde nie was mit uns werden.

Noch während des Checks werden wir alarmiert. Gestürzte Person, natürlich im 4. OG. Schon beim ersten Mal Treppe hoch laufen bin ich extrem aus der Puste und als wir oben ankommen, zittere ich regelrecht.
Wir müssen nachalamieren, ohne adäquate Analgesie bekommen wir den Patient nicht umgelagert.
Alex ist mit Nick Bachmann relativ schnell da und zu viert müssen wir schließlich den Patienten runtertragen. Ich trage einen Teil des Oberkörpers mit, was sonst kein Problem ist, aber heute fehlt mir einfach die Kraft und ich zittere ziemlich stark unter dem Gewicht. Ohne Haix würde ich sicherlich umknicken.
Auf dem Flur des 3. OGs befiehlt Alex, stehen zu bleiben.
,,Josephine. Du tauscht mit Nick."
,,Bitte?", frage ich.
,,Nimm die Beine.", befiehlt er.

Vor einem Patienten fange ich keine Diskussion an, zudem bin ich ganz froh, getauscht zu haben. Auch wenn das bedeutet, dass Alex gemerkt hat, dass es mir nicht so gut geht, und ich mir bestimmt noch was anhören darf gleich.
So kommt es auch: Sobald der Patient in der KaS übergeben ist, werde ich von Alex' aufgefordert, ihm in einen leeren Untersuchungsraum zu folgen.
Er zieht die Tür hinter uns zu.
,,So, Josi. Klartext. Was ist los?" Er mustert mich so eindringlich, dass ich wegschauen muss.
,,Alex, es sind 40 Grad draußen, das ist kein Wunder."
Er will etwas erwidern, in dem Moment klingelt das Handy unseres RTWs.
Es ist die Leitstelle, die fragt, ob sie uns wir einen neuen Einsatz übernehmen könnten, obwohl wir in der 8 sind, weil alle Autos in der Stadt gebunden seien.
Ich bejahe und verlasse ziemlich fluchtartig und ohne Verabschiedung den Raum.

ASDS- auch Retter müssen mal gerettet werden Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt