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Ziemlich neben der Spur erwachte ich in meinem dämmrigen Zimmer. Ein durchdringendes Quietschen quälte im Zwielicht meine Ohren und verursachte eine Gänsehaut auf meinen Armen. Es klang, als würde jemand mit den Fingernägeln über eine Schultafel fahren. Leises Heulen von Wind, der durch einen schmalen Spalt pfiff, war von der Zimmertür her zu hören und versetzte mich augenblicklich in einen Zustand höchster Nervosität. In dem kleinen Raum war es feucht und stickig und ich fühlte mich nicht, als hätte ich allzu lang geschlafen. Ich brauchte einen Moment, um mich in der fremden Umgebung zurecht zu finden. Dann tappte ich zum Fenster.

Schwarze Wolken türmten sich in den Himmel, vereinzelt zuckten Blitze die Wolkentürme entlang und beleuchteten sie unheilverkündend. Leises Grollen war in der Ferne zu hören. Die Bäume vor meinem Fenster wiegten sich in den ersten stürmischen Böen. Ein Ast kratzte über meine Fensterscheibe, daher kam das widerwärtige Geräusch, das mich aus dem Schlaf gerissen hatte.

Dieses Fenster würde ich im Leben nicht öffnen. Dann klebten meine Haare lieber weiter in meinem Nacken. Ich ging zu meinem Rucksack, drehte die Haare zu einem unordentlichen Knoten und band sie mit einem Gummi, den ich aus den Tiefen der Taschen fischte, zusammen. Man musste sich nur zu helfen wissen.

Im Schneidersitz setzte ich mich, den Rucksack auf dem Schoß, auf mein Bett und grub die Sandwiches hervor, die ich noch nicht verspeist hatte. Lecker sahen die nun nicht gerade aus. Doch das aggressive Knurren meines Magens forderte unnachgiebig, den leichten Ekel zu verdrängen. Indisch, Chinesisch, Italienisch. Alles wäre mir jetzt lieber gewesen. In dem Unwetter rauszugehen, stand aber noch weniger zur Debatte, als das Fenster zu öffnen. Ich war jetzt schon total angespannt und hibbelig, weil der Wind die Bäume immer mehr zur Seite bog.

Mein Essen schmeckte. Viel besser sogar, als die Optik vermuten ließ, und bot ein wenig Ablenkung. Netflix wäre allerdings besser. Mal sehen, ob das Netz hier genug hergab, damit ich streamen konnte. Der Akku war in jedem Falle noch stark genug, denn nach dem ärgerlichen Telefonat mit meinem Bruder, hatte ich es abgeschaltet, damit er mir nicht weiter auf den Zeiger gehen konnte. Und diese Vorahnung war nicht einmal schlecht gewesen. Sage und schreibe 24 Anrufe hatten sich in meiner Liste angesammelt, als ich es einschaltete. Erstaunlich. Drei von Stacey, sieben von Miles. Vier davon in der letzten halben Stunde und der Rest war -was sollte ich sagen- von Dawson.

Damit wollte ich mich jetzt nicht befassen, denn es löste in mir einen wahren Wirbelsturm unterschiedlicher Gefühle aus, die in schillernden Farben zwischen Scham, Wut, Enttäuschung und Unverständnis changierten. Wie vor den Wettkämpfen atmete ich tief durch. Verdrängte, was mich belastete und beschränkte mich darauf, über Dawson und sein oft widersprüchliches Verhalten einfach den Kopf zu schütteln. Ebenso wie über die Flut von Nachrichten, die bei allen, die mir schrieben, denselben Tenor hatten: „Wo bist du?" „Warum gehst du nicht an dein Telefon?" „Melde dich bitte!"

Was war mit denen los? Wenn ich im Schwimmtraining war, ging ich auch nicht ans Telefon. Da drehten sie doch auch nicht gleich durch. Ob ich Miles besser zurückrufen sollte? Er schien nervös. Nicht, dass er am Ende die Polizei rief. Das Problem war nur das blöde Gewitter. Es blitzte, es donnerte und der Regen lief inzwischen, einem Wasserfall gleich, das Fenster hinunter.

Nur weil hier ein Unwetter tobte, musste das in Nashville, wo ich jetzt offiziell war, nicht genauso sein. Wenn ich anrief und dort die Sonne vom wolkenlosen Himmel strahlte, dann war ich aufgeflogen, bevor ich hallo zu Miles gesagt hatte. Misstrauisch war Miles ohnehin schon gewesen. Zu einem abschließenden Ergebnis kam ich nicht, denn mein Handy leuchtete in meiner Hand auf, vibrierte stetig. Der Anrufer war in der aktuellen Situation das kleinere Übel: Dawson wusste über meinen Aufenthaltsort wenigstens Bescheid. Und das Telefonat würde mich vielleicht von den Blitzen und den krachenden Donnerschlägen ablenken, die in immer kürzeren Abständen aufeinander folgten.

„Ja?", meldete ich mich zurückhaltend und möglichst frostig. Nur mein hektischer Herzschlag strafte mich lügen. Doch den konnte Dawson durch das Telefon zum Glück nicht sehen.

„Himmel, Riley, endlich! Warum gehst du nicht an dein verfluchtes Telefon? Hast du eine Ahnung, was ich mir für Sorgen mache?", schimpfte Dawson. Ich behielt meine Gefühle unter Verschluss.

„Wenn das eine Ratespiel ist, dann würde ich auf Antwort c ‚gar keine' tippen", antwortete ich reserviert. Nicht ohne Stolz bemerkte ich, dass es Dawson einen Augenblick die Sprache verschlug. Gut möglich, dass er mit einer Entschuldigung gerechnet hatte.

„Falsch, Riley! Völlig falsch! Ich versuche seit Stunden dich zu erreichen. Hast du den letzten Bus nach Nashville noch erwischt?" Die Besorgnis in seiner Stimme verursachte ein schlechtes Gewissen bei mir. Seltsam. Seit ich begonnen hatte zunehmend eigene Entscheidungen zu treffen, verlagerte sich mein emotionales Gleichgewicht und kippte immer mehr in diese Richtung. Jeder gab mir das Gefühl, mit meinen Entschlüssen abseits des Vertretbaren zu handeln und mich dafür rechtfertigen zu müssen. Vor mir und vor dem ganzen Rest der Welt.

„Nein, habe ich nicht!", murmelte ich defensiv und beobachtete das Geschehen vor dem Fenster.

„Aber wo bist du dann? Ich hab dich am Bahnhof nicht gefunden! Auch in den umliegenden Diners und Geschäften nicht. Du bist doch bei dem Wetter hoffentlich nicht draußen unterwegs?"

Ich schnaubte genervt. Für so dämlich konnte nur er mich halten. Dann begriff ich: Er hatte nach mir gesucht. Ich war ihm alles andere als egal.

„Nein, ich habe ein Zimmer in einer Pension", antwortete ich mit dünner Stimme. Das Gewitter zerrte zunehmend an meinen Nerven. „Meinst du es gibt einen Tornado oder so?", rutschte es mir raus.

„Du hast wirklich richtig Angst vor Gewitter, hm?", fragte er ganz sanft.

„Gar nicht! Ich mag sie nur nicht besonders", log ich, zuckte aber im selben Augenblick zusammen, als es taghell in meinem Zimmer wurde.

„Sag mir einfach, wo du bist." Seine Stimme klang ruhig, aber trotzdem nachdrücklich. „Riley?"

„Ich weiß den Straßennamen nicht mehr genau", wisperte ich. „Nur den Namen der Pension." Und den nannte ich ihm daraufhin.

„Ich bin ganz in der Nähe. Gib mir fünf Minuten." Ungläubig starrte ich auf das Telefon in meiner Hand. War das der gleiche Dawson, der mich vor wenigen Stunden unbedingt loswerden wollte?

Kaum vorstellbar, dass ich genau diesem Dawson wenige Minuten später mit zitternden Händen die Tür zu dem Zimmer öffnete, das ich gemietet hatte. Faktisch hatte ich eine Scheißangst. Vor dem Unwetter und vor Dawson. Beide hatten in etwa die gleiche zerstörerische Kraft. Wie Blitz und Donner bei einem Unwetter immer enger aufeinanderfolgten, kehrte Dawson immer wieder und in immer kürzeren Abständen in mein Leben zurück. Ich hatte das Gefühl, dass ich haltlos auf das Auge eines Wirbelsturmes zu trudelte und niemand würde kommen, mich zu retten.

In einem durchnässten, dunklen Shirt, das an seiner Brust klebte, wie eine faltige zweite Haut, stand Dawson vor mir. Mit seinem Fuß drückte er die Tür hinter sich zu. Er sah viel blasser aus als sonst, der Bluterguss schillerte dunkel an seinem Kinn, als er auf mich zu kam.

„Ich bin so froh, dass es dir gut geht, Riley. Die Vorstellung, dass du bei solch einem Unwetter allein durch die Stadt irrst, hat mich verrückt gemacht." Seine Stimme war dunkel und samtig weich. Erleichterung stand ihm in sein, trotz der Verletzungen, hübsches Gesicht geschrieben.

Dawson zog mich kurz in seine Arme, bevor er seine kalten, klammen Hände an meine Wangen legte und mir flehend in die Augen sah.

„Tu mir so etwas nicht mehr an. Geh bitte an dein Telefon, wenn ich dich anrufe. Ich habe mir schreckliche Sorgen gemacht", bat er eindringlich.

„Ist kaum zu glauben. Ich hatte eher den Eindruck, du konntest mich vorhin gar nicht schnell genug loswerden, nachdem du festgestellt hast, dass mein Kuss nicht so berauschend war", konterte ich weit weniger bissig, als ich klingen wollte.

„Hm, kann schon sein, dass ich wollte, dass du diesen Eindruck bekommst."

Finally - Falling for you Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt