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Wenn ich klug gewesen wäre, dann hätte ich das vor ein paar Tagen schon getan und wäre zurück ins Wohnheim gefahren. Am besten vor der Party. Vor dem Kuss. Bevor ich feststellen musste, dass die Garage mir nicht nur nichts mehr liefern würde, sondern mir im Gegenteil noch mit einem Verfahren drohte.

„Fuck", murmelte ich immer wieder leise. Ich hatte keinen Plan, was ich jetzt tun sollte. In das Motorrad hatte ich schon so viel investiert. Nicht nur finanziell. Zeit steckte darin, mein Herzblut, meine Liebe. Und mein Schmerz.

Meine Reisetasche geschultert joggte ich die Treppe runter, die Einfahrt entlang bis zur Straße, wo mein kleiner mickriger Toyota parkte. Ich warf die Tasche auf den Beifahrersitz und stieg ein. Meine Hände umklammerten das Lenkrad, die Knöchel traten weiß hervor.

Und wie jedes verfluchte Mal, wenn ich versuchte, ohne Abschied zu fahren, kapitulierte ich. Ich schloss die Augen atmete ein und aus. Es war nur ein verdammter Schrotthaufen. Metall, Kabelzeug. Nichts Lebendiges und doch das Einzige, das geblieben war. Nur ein winziger Fetzen einer Seite, rausgerissen aus einem Roman, der noch so lange nicht beendet war und noch hätte fortgeschrieben werden sollen.

Ich stieg aus, ging zurück, öffnete das Garagentor. Da stand sie. Gebrochen und entstellt bis zur Unkenntlichkeit. Doch ihr hatte ich Leben einhauchen können, ihr Motor lief wieder. Dads Motor würde nie mehr anspringen. Er war Vergangenheit. Doch sein Motorrad war meine Gegenwart. Meine Zukunft. Es war eine feine, fragile Verbindung zwischen ihm und mir. Fein wie die Fäden an den Gliedern einer Marionette und sie lenkten meine Schritte seit einiger Zeit schon in die richtige Richtung.

Vorsichtig strich ich über den Lenker, der noch immer grausam verrenkt war. Verdreht wie der Körper meines Vaters. Seine Wirbelsäule war gebrochen gewesen, die Nerven durchtrennt. So hatte er die Schmerzen in seinem zertrümmerten Bein nicht spüren müssen, während er hilflos auf Rettung wartete. Behaupteten die Ärzte. Doch wer wusste schon genau, was man spürte? Den körperlichen Schmerz nicht. Aber Angst? Verlust? Perspektivenlosigkeit? Was war mit Liebe? Hoffnung? Verzweiflung? Welche Nerven musste man durchtrennen, damit ein Mensch all das nicht mehr fühlte?

Wann ich beschlossen hatte, zu retten, was von Dad noch zu retten war, konnte ich mich nicht mehr erinnern. Es war kurz nach unserem Umzug gewesen, denke ich.

Es gab kein Ehebett mehr, wo ich mich auf Dads Seite einrollen konnte. Keinen Kleiderschrank mehr, in dem ich mich bei Gewitter hätte verkriechen können. Keine Werkstatt. Keine Bücher von ihm. Keine Filme oder CDs. Das Bike und ich waren alles, was er der Nachwelt hinterlassen hatte. Von allem anderen hatte Mum sich getrennt und mich davon abgenabelt, mich gefühllos per Kaiserschnitt in eine Realität gezerrt, in der ich ab dem Moment leben musste. Sie dachte, sie täte das Richtige. Sie wollte das Beste für mich. Einen Schnitt und einen klaren Neuanfang.

Für mich begann der Neuanfang mit einem ersten klaren Schnitt. In meinen Unterarm.

Sie war am Packen und aussortieren. Lediglich Dads Rasierklingen hatte sie aufgehoben. Die konnte man im Gegensatz zu Aftershave, Duschgel oder Deo noch brauchen. Zum Auftrennen und um Vogelscheiße von Autoscheiben zu kratzen.

Oder um sich feine Schnitte zuzufügen, wenn die Seele stumm nach einem Vater schrie, der nicht zurückkehren würde und es keine Worte für den Schmerz gab, der mich innerlich zerriss.

„Bye", murmelte ich töricht einen leisen Abschied, bei dem meine Augen brannten. „Bald siehst du aus wie neu", wisperte ich mir selbst ein Versprechen zu. „Dann fahren wir durch die Smokey Mountains." Ich musste nur irgendwie das verdammte Geld zusammenbekommen. Das stand auf meiner To-do-Liste ganz oben. Dicht gefolgt von der Salbe über die Lio und ich vorhin gesprochen hatten.

Es gab drei Wege, die ich fahren konnte, um zurück zur Uni zu gelangen. Als ich meinen Wagen parkte, hatte ich keinen Schimmer, welchen ich genommen hatte. Gleichzeitig hatte ich nicht die leiseste Vorstellung, worüber ich in meiner geistigen Abwesenheit nachgedacht hatte. Mein Kopf produzierte eigentlich keine konkreten Gedanken, nur diffuse Variationen diverser Horrorszenarien, die alle auf die eine oder andere Art im Knast endeten und im Hintergrund hatte die ganze Zeit ein altes Tape aus dem Wagen meiner Mum gedudelt. Der Radio war schon lange kaputt und ich hielt die einzige Kassette, die ich aus einer Zeit vor den CDs gerettet hatte für eine gute Alternative zu dem lauten Röhren des Motors. Das machte mir auch Sorgen. Die Anzeige der Kühlertemperatur stieg bedenklich schnell. Wäre es heute heißer gewesen, wäre ich sicher wieder mindestens zwei Mal angehalten, um Wasser nachzufüllen, das mein Kühler mit bemerkenswerter Regelmäßigkeit ausschwitzte.

Zusammenfassend konnte ich folgendes festhalten: es lief alles beschissen gerade.

Vor meinem Zimmer blieb ich erstmal stehen. Lauschte. Kein Stöhnen, Kichern oder auffälliges Rascheln, das einen Hinweis darauf geben würde, dass ich Chad bei irgendwas Wichtigerem störte. Trotzdem klopfte ich an.

„Komm rein, Baby", rief er launig. Schnaubend verdrehte ich die Augen.

„Hab dich auch vermisst, Honey", antwortete ich schmunzelnd und warf meine Tasche vor mein Bett.

„Sieh an, die alte Hackfresse ist zurück", knurrte Chad und zog sich ein Shirt über. „Ich hatte auf stramme Möpse und einen knackigen Arsch gehofft."

„Einen knackigen Arsch hab ich. Der ist für dich aber tabu", gab ich launig zurück. Täuschen konnte ich Chad mit meiner aufgesetzten guten Laune aber nicht.

„Was machste denn schon hier? Uni ist erst wieder in gut einer Woche. Ist dir schon klar, oder?" Er warf sich wieder auf sein Bett. „Sag bloß, du bist mit dem Motorrad von deinem Alten endlich fertig?", fragte er neugierig

„Nicht mal annähernd!", seufzte ich und entledigte mich meiner Schuhe. „Mir ist die Kohle ausgegangen. Krieg keine Teile mehr."

„Was ein Scheiß!", murmelte er und nickte in Richtung meines Unterarms. „Und da ist was passiert? Ist dir der Schraubenzieher abgerutscht?"

„Ne, die Rasierklinge."

„Bah! Das ist ja widerlich! Kaum haste nichts an Daddys Maschine zu schrauben, schon geht der Dreck wieder los?"

Die Klarheit, mit der Chad die Dinge sah, waren einer der Gründe, warum er mein bester Freund war. Ich musste ihm nichts erklären. Er verstand auch ohne Worte, was mich bewegte. Manchmal sogar besser als ich selber und nicht selten erklärte er mir meine eigene kleine Gefühlswelt.

„Wird Zeit, dass du eine Freundin findest. Eine, mit der du dich tagelang in einem Zimmer einschließen willst. Eine die nicht nur deinen Körper beschäftigt, sondern dir die nutzlosen Gedanken aus dem Hirn bläst und dein Herz berührt. Ich werde mit Lionel eine Task Force gründen. Wir suchen dir ein Mädchen!"
Ich bekam Gänsehaut. Mädchen klang... jugendlich. Klang nach Riley.

„Ne, lass mal. Ich bin nicht der Typ für was Festes", wiegelte ich ab.

Finally - Falling for you Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt