Teil 35

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Das war so nicht geplant.

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Kenan verliert nicht die Lust daran. Auch nicht als ich richtig zickig werde und ihm sage er solle gehen. Er hat mich nur schmallippig angelächelt.

"Ever!" "NEIN!" brülle ich aus vollem Hals zurück. Die Wut und die schlechten Launen sind zu einem gemeinen toxischen Cocktail in mir zusammengekommen. Voller Frust stapfe ich weiter den steilen Hang hinauf. Gestern Abend hat es noch geregnet, weshalb der Boden rutschig und matschig ist. Meine Schuhe sind mehr braun als grau.

Ich habe nur ein Ziel im Kopf und sollte Kenan mich bis dahin gebleiten muss ich ihn wohl oder übel den Berg hinunter schubsen. "Ever! Warte!" "Oh Fick Dich!" schreie ich ihn über meine Schulter hinweg zu. Unüberhörbar beginnt er zu fluchen und...zu glucksen. Der Penner lacht. Ich höre seine Schritte die jetzt schneller werden. Mein Puls erhöht sich. Blind vor Angst vor dem was passieren wird, wenn er bei mir ist laufe ich schneller. Während ich fast renne und meine Beine vor Anstrengung schmerzen drehe ich mich um und laufe Rückwerts weiter. "Lass mich in Frieden!"

Meine Worte stacheln ihn anscheinend an. Kenan sieht wild entschlossen zu mir auf. Das Lachen ist wie weggewischt. "Vergiss es! Du läufst mir nicht nochmal davon, Ever!" Am liebsten würde ich ihn anspringen, so wütend bin ich. "Pisser!" knurre ich leise. Gerade als ich ihm, lauter etwas zukommen lassen will, stolpere ich über meine eignen Beine und falle auf den dreckigen Boden.

"EVER!" schreit Kenan erschrocken auf. Bevor er zu mir eilen kann springe ich schon wieder auf und renne das letzte Stück hinauf. Ein stechender Schmerz zieht mein rechtes Bein hinauf. Ich beiße die Zähne zusammen und laufe im schnellen Tempo zur verlassenen Kirche.

Ich kämpfe mich durch das immer dichter werdende Gebüsch hindurch zu der alten Ruine. Endlich. Ich bleibe stehen und schaue mir das alte Gemäuer an. Gleich bilde ich mir ein freier atmen zu können. Ich schließe für eine Sekunde die Augen und komme wieder zu Atem.

Kenan tritt genau in dem Moment hinter mich als ich mich entspannt habe. Sobald ich seine Wärme an mir spüre weiche ich zurück. Weg von ihm. "Ever, bitte." fleht er mit erstickter Stimme. Ich schüttle fast automatisch den Kopf und gehe weiter hinein, ins Innere.

"Verdammt nochmal rede mit mir!" Wie aus dem Nichts steht Kenan hinter mir, packt meine Schultern und dreht mich zu sich herum. Wütend funkle ich ihn an. Er schaut mindestens genauso aufgebracht zu mir. "Ich soll reden? Reden?" fauche ich ihn an. Er hat das Ventil gelöst. Das Ventil das all diese angestaute Wut und Verzweiflung in mir zusammenhält. Die mich zusammen hält. "JA!" sagt er laut und deutlich.

"Du bist ein Idiot, Kenan! Du kapierst es nicht!" "Dann klärt mich auf!" bittet er mich nun im sanfteren Tonfall. Da reißt bei mir auch der Faden der Geduld und ich beginne auf seine Brust einzuschlagen. Immer wieder hämmere ich drauf ein und Kenan lässt es einfach geschehen. "Ich wollte das alles nicht!" Wieder ein Schlag. "Ich wurde verdammt nochmal nicht gefragt!" Wieder ein Schlag. "Ich will es nicht!" Wieder ein Schlag. "Ich...ich." Tränen laufen mir über die Wange, sie erschweren mir das Luft holen. Mit jeder weiteren Träne löst sich der Stau in mir. Ich gerate ins Stocken. Ich will wieder auf ihn einschlagen aber diesmal hält er meine Fäuste fest.

Mit großen Augen schaue ich zu ihm auf. Seine braunen Augen funkeln resigniert, nervös und verzweifelt. Ich öffne den Mund um ihn wieder von mir zu stoßen, einfach weil es einfacher ist. Wut ist einfacher als Konfrontation. Damit kann ich umgehen. Da zieht Kenan mich fest an sich heran und drück seine Lippen auf meine.

Zuerst bin ich wie erstarrt. Aber sobald die Wärme von seinen Lippen auf meinen zu spüren ist, sobald ich seinen Atem auf meinem Gesicht spüre und seine Hände die mich festhalten, entspanne ich mich.

Ich öffne den Mund und küsse ihn leidenschaftlich zurück. Ein heißerer Laut entkommt seinen Lippen und er drückt mich noch fester an sich. Seine Hand legt sich auf meine Wange und wischt mit dem Daumen meine Tränen weg. Seine Lippen sind weich und schmecken nach Wärme und Geborgenheit. Ich ziehe an seinem Pullover. Brauche mehr von dieser Wärme. Mit der Zunge bittet Kenan um Erlaubnis, die ich sofort gewähre. Wir küssen uns als seien wir im Fieber. So leidenschaftlich und unkontrolliert. Mein Blut gerät in Wallungen.

Meine Finger wandern unter seinen Pullover auf der Suche nach der Wärme. Sobald meine Finger seine warme Haut berühren zuckt er erschrocken zusammen und löst für eine Sekunde seine Lippen von meinen. Wir bleiben weiterhin so eng aneinandergeschmiegt, seine Lippen nur ein paar Millimeter von meinen entfernt. Ich gehe auf Zehenspitzen um uns wieder zu vereinen, da schießt ein vergessener Schmerz mein rechtes Bein hoch. Ich keuche auf und sacke wieder zurück auf meinen Fußballen. Kenan schaltet sofort.

"Fuck." flucht er leise. Kurz starre ich auf den Boden um den Schmerz weg zu atmen aber es tut so höllisch weh das ich nicht mitbekomme wie Kenan sich von mir löst. "Das...das tut weh." jammere ich und verlagere mein Gewicht auf das andere Bein.

"Komm, ich helfe dir." Kenan tritt neben mich und legt mir meinen Arm um seine Schulter. Da er so viel größer ist als ich muss er gebückt weiterlaufen. Er führt mich einem ausgebrochenen Fenster, das eine dicke Fensterbank aus Stein besitzt. Vorsichtig hebt er mich darauf. "Zeig mal her." Er kniet sich vor mich hin und öffnet ganz sanft meinen Schuh.

Mit vorsichtigen Griffen zieht er mir Schuh und Socke aus. Die kühle Luft tut so gut. Erschöpft lasse ich mich an die Wand sinken und schließe für eine Sekunden die Augen.

"Das sieht verstaucht aus, nicht gebrochen. Hast Glück gehabt." "mmmh." murmle ich während Kenan mir vorsichtig den Socken wieder drüberzieht. "Danke." flüstere ich als er sich neben mich setzt. "Willst du mir jetzt sagen was los ist?" fragt er vorsichtig.

Ich linse zu ihm hinüber. Sein Blick ist auf meinen Fuß gerichtet. Seine Haare sind zerzaust und seine Lippen geschwollen. Er sieht so heiß aus. Seine Brauen sind zusammengezogenen und seine Lippen fest aufeinandergepresst. "Ich wollte ja, aber du musstest mich ja unbedingt küssen." Mein lahmer Versuch die Stimmung aufzuhellen klappt. Kenan verzieht die Lippen zu einem kleinen Lächeln. Seine Wangen werden rot. "Du warst so hysterisch, ich musste dich irgendwie beruhigen" "Halt die Klappe." antworte ich leise, müder. Kenan kichert. Ich seufze schwer. "Obwohl es das alles so viel komplizierter macht." gestehe ich.

"Wieso komplizierter?" Kenan lehnt sich ein Stück weiter vor, so als wolle auf keinen Fall meine nächsten Worte verpassen.

"Weil ich dich wieder küssen will." Gestehe ich ihm lächelnd. 

The DifferenceWo Geschichten leben. Entdecke jetzt