Teil 30

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Eine behütete Welt heißt nicht gleich eine gute Welt.

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Von unten dringen verschiede Stimmen zu mir hoch. Verschiedene Oktaven und verschiedene Worte dringen in mein Ohr. Ich höre sie rufen, schreien, singen und lachen. Wir haben fast 2 Uhr in der Nacht und ich kann nicht schlafen. Ich tigere immer wieder von meiner Tür bis zum Fenster. Kaue auf meinen Nägeln oder auf meiner Lippe. Ich bin hippelig und völlig rastlos.

Türen werden zugeknallt und die Musik immer wieder gewechselt. Noch hat es keiner geschafft hier hoch zu kommen. Mein Zimmer ist abgesperrt. Ich glaube nicht wirklich dran das jemand von den Leuten unten raufkommen würde und dann ausgerechnet in meinem Zimmer landen würde. Mein Dad und auch Eric würden das niemals zulassen, egal wie betrunken sie auch sein mögen. Ich bin hier zwar sicher fühle mich aber dennoch nicht wohl.

Fernsehen kann ich nicht. Ich muss mich bewegen. Lesen ist mir auch zu öde. Runter gehen ist keine Option. Also tigere ich weiter auf und ab. Bis ich es nicht mehr aushalte und mir mein Handy schnappe.

Das Licht blendet mich im ersten Moment so dass ich meine Augen zusammen kneifen muss um das Licht zu dämmen. Keine neuen Nachrichten. Keine neuen Posts auf Instagram mit denen ich mich hätte beschäftigen können. Ich scrolle gerade durch WhatsApp als eine Nachricht aufblinkt. Als ich den Namen lese hüpft mein Herz.

Kenan: Wieso noch wach?

Ever: Wieso auf meinem Chat?

Kenan: Marlon und ich haben gerade alle Teile von Fluch der Karibik geschaut.

Ever: ????

Kenan: Jetzt habe ich Angst das Licht aus zu machen ;)

Ich stehe vor meinem Bett, das Handy in der Hand und kichere laut.

Ever: Armer Kenan.

Ich bekomme einfach nicht das Grinsen aus dem Gesicht. Die Vorstellung er hätte Angst vor Fluch der Karibik finde ich so süß.

Kenan: :(

Kenan: Also wieso bist du noch wach?

Ich seufze laut. Hin und her gerissen ob ich ehrlich sein soll oder lieber eine bequeme Ausrede mir einfallen lassen soll.

"Ochhhhh." stöhne ich laut bevor ich in das Handy tippe.

Ever: Mein Vater hat Freunde da. Sie sind ziemlich laut.

Das Zeichen blinkt auf das Kenan gerade etwas schreibt. Dann erlischt es wieder. Dieser Vorgang passiert ungefähr dreimal bevor endlich etwas kommt.

Kenan: Schaut dein Vater abends bei dir nochmal rein?

Ever: In der Regel nicht, wieso?

Kenan: In welchem Stock ist dein Zimmer?

Ever: Im ersten, wieso?

Kenan: Kannst du durch das Fenster raus?

Ich verdrehe die Augen.

Ever: Ja, und jetzt sag mir wieso??????

Kenan: Ich könnte in 10 Minuten bei dir sein.

Ever: ...?

Kenan: Lust auf eine Spritztour?

Ich zögere. Tippe ein Ja. Lösche es wieder. Tippe ein Nein und lösche auch dies wieder. Ich starre aus dem Fenster in die Nacht hinaus. Soll ich? Ich bin hin und her gerissen. Als von unten etwas scheppert und darauf lautes gegrölte ertönt, zucke ich zusammen und tippe endlich ein ja.

Trotzdem vergehen nochmal 3 Minuten bis ich es abschicke.

Kenan: Bin in 10 Minuten da.

Mein Puls geht langsam aber sicher immer höher. Schnell schaue ich mich im Spiegel an. Meine Haare sind unordentlich in einem Zopf. Ich trage keinen BH und Schlafklamotten. Schnell schlüpfe ich in eine bequeme Jeans und ziehe mir meinen Hoodie über den Kopf. Meine Haare binde ich neu zu einem Zopf. Das Bett zerwühle ich und stopfe Kissen unter die Bettdecke. Ich rechne nicht mit Besuch aber im Notfall sollte es meinen Vater hoffentlich täuschen.

Mit jeder Minute mehr werde ich aufgeregter und nervöser. Ich lösche das Licht, öffne das Fenster einen Spalt und heiße die kühle Luft Willkommen. Zum Glück ist unser Haus nicht besonders hoch und ich kann über das Garagentor nach draußen gelangen. Ich ziehe mir noch schnell meine Hausschuhe an, klettere leise auf das Garagentor, schließe das Fenster hinter mir und klettere dann langsam hinunter in die Nacht.

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"Hey." "Hi." Ich öffne die Beifahrertür und steige ein. Es ist mollig warm und riecht nach Leder und Kenan. Sobald ich angeschnallt bin fährt er los. Er hat mich zwar zwei Querstraßen weiter abgeholt aber dennoch will ich kein Risiko riskieren das uns jemand sieht.

"Niedliches Shirt." kommentiere ich während ich an der Heizung rumspiele. Kenans Haare sind total verstrubelt. Auf seinem Shirt sind ganz viele kleine Star Wars Symbole. Kenan schaut grinsend an sich hinunter. Ich meine zwei roten Flecke auf seinen Wangen sehen zu können aber sicher bin ich mir nicht. "Das hat meine Grandma mir zum Geburtstag letztes Jahr geschenkt." "Süß." sage ich breit grinsend. Er verdreht die Augen, lächelt jedoch dabei.

"Und du hast jetzt panische Angst so dass du nicht schlafen kannst? Hast du Angst das dich der Oktopus holen kommt?" "Ha ha." Kenan schaut zwar gerade aus aber er schafft es mit einer Hand mich in die Seite zu zwicken. Ich weiche aus und schlage kichern seine Hand zurück.

"Hast du en Film gesehen?" fragt er mich. "Nein, ich stehe nicht auf die Art von Filmen." "Aha also darfst du mich auch nicht verurteilen!" klagt Kenan. "Ich verurteile dich überhaupt nicht. Ich finde es einfach nur...niedlich."

"Niedlich...PFF" Er schnaubt entrüstet. Was mich nur noch mehr zum Schmunzeln bringt. "Es ist nicht schlimm niedlich zu sein." tröste ich ihn und tätschle seine Schulter. Die Wärme seiner Haut spüre ich durch das Shirt. Meine Hand bleibt einen tick zu lange auf ihm liegen. Kurz wirft er mich einen Blick zu, schnell zuckt meine Hand zurück. Ich räuspere mich um die Situation zu entschärfen.

"Was schaust du denn für Filme?" fragt Kenan mich stattdessen. "Oh ich liebe Weihnachtsfilme." "Welche zum Beispiel? " "Der Grinch, Kevin allein Zuhause und Santa Claus." "Kenn ich alle nicht, außer Kevin allein Zuhause, ich glaube den habe ich mal angefangen." Geschockt schaue ich zu ihm rüber. Ich habe den Mund ein Stück geöffnet und meine Augen ausgerissen. Kurz wirft er mir einen Blick zu und fängt an zu lachen.

"Tut mir leid." Er zuckt mit den Schultern. "Wir hatten die ersten zwölf Jahre meines Lebens keinen Fernseher und danach...ich weiß auch nicht kam ich nie dazu. "Oh mein Gott! Das müssen wir nachholen. Kenan, das sind Bildungslücken." dramatisiere ich. Kenan schaut nur ab und zu belustigt zu mir rüber. Er fährt uns durch die dunklen Straßen.

"Wo fahren wir eigentlich hin?" frage ich. Er wirft mir einen geheimnisvollen Blick zu. "Ein Geheimnis." "Ohh ich liebe Überraschungen." Ich kusche mich weiter in den Sitz und lasse alles einfach auf mich wirken. Die ruhige Stimmung, das beruhigende brummen des Motors und einfach Kenans Anwesenheit.

Wir fahren gerade über die Brücke hinaus aus der Stadt als von hinten Lichter flackern. Neugierig richte ich mich auf und schaue nach hinten. Kenan folgt meinen Blick durch den Spiegel und beginnt dann zu fluchen. Die blauen Lichter kommen näher, dann ertönt eine Sirene.

Mein Puls schießt in die Höhe. Meine Hände beginnen zu schwitzen. "Kenan..." flüstere ich rau. Doch sein Blick zuckt immer wieder in den Rückspiegel. Seine Miene ist grimmig verzogen.

"Fahren Sie rechts ran!" ertönt es aus den Lautsprechern hinter uns. In mir erstarrt jeder Muskel. Kenan flucht weiter, bremst das Auto ab und fährt auf den Seitenstreifen. "Kenan..." hauche ich erschrocken. Bevor der Motor ausgeht wirft mir Kenan einen letzten Blick zu. Ich sehe in seinen Augen eine leichte Panik. Das habe ich bei ihm noch nie gesehen. Es macht mir wahnsinnig Angst. 

The DifferenceWo Geschichten leben. Entdecke jetzt