[Eins] - Innere Leere

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Mit angewinkelten Beinen sitze ich auf der Couch; eingewickelt in einer kuscheligen Decke. Mit der einen Hand kraule ich Timber, die sich neben mir eingerollt hat, in der anderen Hand ein Buch, aufgeschlagen auf Seite 152 und auf dem Tisch eine Tasse Kaffee. Fehlt nur noch der Kamin, in dem ein Feuer lodert und eine schneebedeckte Landschaft. Aber wir leben in Miami, es ist Ende August und deshalb alles andere als winterlich.
Was auf den letzten hundert Seiten des Buches passiert ist, weiß ich gar nicht mehr und der Kaffee ist mittlerweile so kalt, dass er nicht mehr dampft.
Die Zeit schwebt einfach an mir vorbei, während meine Augen ins Leere starren. Und das schon seit Tagen. Seit achtzehn Tagen, um genau zu sein, denn genauso lange zähle ich diese schon und warte auf jenen, an dem ich morgens aufwache und es mir wieder gut geht, weil all der Schmerz verschwunden ist.

Als die Haustür geöffnet und wieder geschlossen wird, werde ich aus meinen leidigen Gedanken gerissen; dankbar dafür, dass diese erdrückende Stille nun ein Ende hat.
»Mom!«, ruft Chester, lässt seine Schultasche achtlos fallen und rennt auf mich zu. Er springt regelrecht zu mir auf die Couch und umarmt mich überschwänglich mit einem Kuss auf die Wange.
»Wir waren heute im Tierpark!«, beginnt er direkt zu erzählen. »Da, wo wir auch schon mal waren. Deshalb wusste ich ganz viel und Ms. Johnson war stolz auf mich deswegen!« Ohne wirklich Luft zu holen, berichtet er über seine Erlebnisse des letzten Tages seiner ersten Schulwoche.
Aber das ist okay für mich, denn er heitert mich damit auf und gibt meinem Kopf ein wenig Fülle. Während ich ihm zuhöre, streiche ich ihm unentwegt durch seine braunen Locken.
Auch Jolene unterbricht ihn dabei nicht, obwohl sie das alles bestimmt schon unterwegs erzählt bekommen hat.
Zu Begrüßung gibt sie mir nur einen Kuss auf die Stirn und lächelt mir zu. Dann geht sie in den Küchenbereich, um sich einen Kaffee zu machen.

»Darf ich heute bei Rambo schlafen?«, fragt Chester dann und wechselt nahtlos das Thema, als er mit seinem Bericht fertig ist.
Irritiert blinzle ich, weil mein Gehirn zunächst nicht mitkommt. »Rambo?«, frage ich ihn verwundert. »Wer ist Rambo?«
»Mein neuer Freund.«
»Und Rambo gibt es wirklich?«, hake ich nach, um einen imaginären Freund auszuschließen.
»Ja«, nickt er. »Er geht auf meine Schule. Er hat auch zwei Brüder, die auf unsere Schule gehen, aber die sind schon älter und noch viel größer. Sie heißen Tyson und Rocky.«
Immer noch irritiert sehe ich zu Jolene, die ihre Kaffeetasse mit beiden Händen umgreift und sich gegen die Anrichte lehnt.
»Wer zum Teufel nennt sein Kind Rambo?? Oder Rocky??«
»Dessen Eltern?«, antwortet Jolene ironisch.
»Und wo wohnt dieser Rambo?«, frage ich dann.
»Weiß nicht.«
»Und wie hast du dir das dann vorgestellt?«, will nun Jolene von ihm wissen. »Wie willst du Rambo besuchen, wenn du nicht weißt, wo er wohnt?«
Gleichgültig zuckt Chester mit den Schultern. »Du kannst das doch ganz einfach herausfinden«, tut er es ab und deutet auf den Laptop.
Jolene selbst zieht nur eine Augenbraue in die Höhe.

»Ich hab jetzt auch eine neue Freundin«, wechselt er erneut plötzlich das Thema und beginnt zu grinsen. »Sie heißt Dina.«
»Und was ist mit Hannah?«, frage ich verwundert.
»Hannah ist doch noch ein Kind«, stöhnt er und verdreht die Augen. »Ich bin jetzt groß und kann doch nicht mit einem Kind zusammen sein.« Fassungslos schüttelt er den Kopf und steht von der Couch auf.
Wortlos deutet Jolene auf seine Schultasche und Schuhe, als er eigentlich in sein Zimmer nach oben gehen will und befiehlt ihm auf diese Art, alles vorher wegzuräumen.
»Was ist jetzt mit Rambo? Darf ich?«, hakt er nach und folgt ihrem stillen Befehl.
»Ich werde jetzt ganz sicher nicht dreihundert Mütter kontaktieren und fragen, ob deren Kind Rambo heißt«, gibt ihm Jolene zu verstehen.
»Musst du doch gar nicht«, argumentiert er. »Du musst doch nur im Computer nachgucken. So, wie du das immer machst.«
Erneut schießt Jolenes rechte Augenbraue nach oben. »Oder du fragst ihn am Montag einfach, wie er mit Nachnamen heißt, wo er wohnt und welche Telefonnummer sie haben«, schlägt sie vor, klopft ihm dabei auf die Schulter und bedeutet ihm, nach oben zu gehen.
»Na gut«, stöhnt er genervt und besteigt die ersten Stufen. »Darf ich dann mit Nelson spielen?«
Dies beantwortet Jolene nur mit einer Handbewegung, während sie auf mich zukommt und sich zu mir setzt.

Jolene (+Family)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt