[Einundneunzig] - Ruhelos

1.5K 105 129
                                    

Jolenes Stimme dringt in sanfter Farbe zu mir durch. Singend bittet sie mich, nicht zu weinen, dass alles gut werden wird, dass sie mich beschützen wird und für mich da ist.
Eines der Lieder, mit denen ich die schönsten Erinnerungen habe. Unsere Hochzeit.
Ich erlebe diesen Tag plötzlich wieder, wie ich in den Saal geführt werde und sie dort am Altar in ihrem so reizenden Hochzeitskleid steht. Sie singt dieses Lied und hält mir die Hand entgegen, während ich auf sie zuschreite.
Mein Herz füllt sich mit Wärme, und doch schlägt es vor Aufregung wie wild in meiner Brust.
Ich spüre ihre Fingerspitzen, die sanft über meine Wange streichen; sehe ihre wunderschönen grünen Augen, die mich in ihren Bann ziehen.

Aber ich sehe auch sie: Morgan. Und plötzlich verschwimmt die schöne Erinnerung und Schmerz durchzieht mich.
»Babe«, höre ich. »Weine nicht.«
Ich versuche es und nehme einen tiefen Atemzug. Er ist zittrig, aber ich bekomme ausreichend Luft, bevor er in einem Schluchzen erstickt.
»Babe.«
Meine Augen zu öffnen fällt mir schwer. Ich habe das Gefühl, als wären sie dick und geschwollen. Zudem noch die Tränen, die das ohnehin schwache Bild verwischen.
»Ich bin bei dir«, sagt sie und ich spüre ihre Lippen unterhalb meines Auges, als würde sie die Tränen direkt einfangen, damit sie es nicht bis zu meiner Wange schaffen.
Zu viele Gerüche steigen mir in die Nase. Ihrer zuerst, weil sie direkt vor mir ist, ganz dicht bei mir. Aber ich rieche auch einen süßlichen Duft, der sich mit einem unangenehm kalten vermischt.
Nur durch Blinzeln schaffe ich langsam, ein klares Bild zu erkennen.
Zuerst ihre grünen Augen dicht vor mir; ein sanfter aber auch ängstlicher Ausdruck in ihnen. Dann sehe ich bunte Farben und weiß jetzt, woher dieser süßliche Duft kommt. Ein haufen Blumen vor einer hässlichen, mintgrünen Wand.
»Wo bin ich?«, frage ich mit gebrochener Stimme und spüre den Schmerz in meiner trockenen Kehle.
»Du bist im Krankenhaus«, antwortet sie und streichelt mich wieder. »Ihr habt mir einen gewaltigen Schrecken eingejagt.«
»Was ist passiert?«
»Du bist zusammengebrochen«, erklärt sie mir vorsichtig und hört nicht auf, mich zu streicheln, damit ich die Ruhe nicht verliere.
»Das Baby!« Sofort lege ich meine Hand auf meinen Bauch und taste ihn ab.
»Ihm geht es gut. Euch beiden«, beschwichtigt sie mich mit einem sanften Lächeln.
Zusammengebrochen
, wiederhole ich in Gedanken und plötzlich droht erneuter Schmerz über mich hereinzubrechen.
»Morgan«, presse ich heraus. »Das war kein Traum?«
Wortlos schüttelt Jolene den Kopf und erneut rollt eine Welle an Gefühlen auf mich zu, aber Jolene reagiert sofort und beruhigt mich mit Worten, Küssen und Berührungen.
»Babe«, spricht sie. »Reg' dich nicht wieder auf. Atme ruhig ein und aus.«
»Was ist mit Morgan?«, schluchze ich. »Wo ist sie?«
Wieder schüttelt Jolene den Kopf. »Sie wird noch vermisst. Kyle auch.«
Es fällt mir wirklich schwer, nicht erneut in Tränen auszubrechen. Ein paar von ihnen schaffen es dennoch durch, aber ich kann mit Hilfe von Jolene meine Atmung kontrollieren und so verhindern, wieder zu hyperventilieren.

Um mich ein wenig abzulenken, blicke ich mich in dem Zimmer um. Zumindest soweit ich meine Augen drehen kann, denn ich liege auf der Seite, weshalb mein Blickwinkel etwas eingeschränkt ist.
»Wie viel Uhr ist es?«, frage ich.
»Acht.«
»Abends?«, hake ich nach, weil ich das aufgrund des Sonnenlichts nicht ganz einschätzen kann.
»Morgens.«
»Morgens?«, frage ich verwundert. Acht Uhr morgens ... Als wir die Nachrichten sahen und von dieser Katastrophe erfuhren, war es zwei am Mittag.
»Du hast 18 Stunden geschlafen«, sagt sie, als hätte sie meine Gedanken gelesen.
»18?« Geschockt sehe ich sie an.
»Du warst zu aufgeregt, du hast dich einfach nicht beruhigt, hast keine Luft bekommen und es drohte eine Frühgeburt. Sie mussten dich ruhigstellen«, erklärt sie mir mit ruhiger Stimme und streichelt mich intensiver.
Wieder spüre ich die Tränen aufkommen, kann sie aber zurückhalten und atme tief durch. »Wo ist Chester?«
»Bei deinen Eltern. Er macht sich Sorgen um dich. Um euch beide.« Dann lächelt sie etwas schwach und legt ihre Hand behutsam auf meinen Bauch. »Sie werden bestimmt bald wieder hier sein und dich besuchen. Sie waren gestern bis zum Ende der Besuchszeit bei dir.«
»Wie geht es Chester?«, frage ich und spüre den dicken Kloß in meinem Hals. Wie muss das für ihn gewesen sein? Erst zu erfahren, was seiner Tante und seinem heißgeliebten Cousin passiert ist und dann zu sehen, wie ich unter all er Trauer und dem Schmerz die Nerven verliere.
»Er ist traurig«, beantwortet sie ehrlich. »Aber er ist tapfer.«
»Er hat deine Gene.«
Jolene schmunzelt ein wenig und beugt sich zu mir, um ihre Lippen auf meine zu legen.

Jolene (+Family)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt