[Zweiundfünfzig] - Alles wächst

1.3K 94 29
                                    

Mit einem Hotdog in der Hand und einem weiteren auf dem Teller, sitze ich im Aufenthaltsraum von CaddySign und gehe gemeinsam mit Naddy die Unterlagen des Bewerbers durch, mit dem wir gleich ein Gespräch haben werden.
Wir haben uns dafür entschieden, dieses Gespräch in diesem Raum zu führen, weil es hier viele Fenster gibt, die wir öffnen können, um den penetranten Geruch der Paprika, mit der ich meine Hotdogs etwas aufgemotzt habe, nicht ganz so intensiv im Raum hängen zu haben.
Zusätzlich liegen noch Paprika Chips vor mir, die ich nicht nur zwischendurch snacken kann, sondern sie ebenfalls in meinen Hotdog gestopft habe.
Naddy kommt nicht umhin, mir zwischendurch einen sonderbaren Blick zu schenken. Dennoch schmunzelt sie, weil sie ja weiß, wieso ich mir diese skurrile Konstellation einverleibe.
In den letzten Tagen haben sich meine Gelüste insbesondere auf Paprika und Chili eingestellt, so dass alles, was ich esse, damit verfeinert wird oder gar hauptsächlich daraus besteht.
Ich habe sogar versucht, einen Paprikasaft zu trinken, aber das war mir geschmacklich dann doch etwas zu viel, weshalb ich auf Tomatensaft umgestiegen bin. Eine Flasche mit diesem steht also ebenfalls vor meiner Nase.

Nick Grayson. Das ist der Name des Bewerbers, den wir uns heute mal in Natur ansehen wollen. Ein Auserwählter für Naddys Bereich. Seine Bewerbung war auffallend. Sehr positiv, ja fast schon euphorisch und ein wenig flippig.
Er war durchaus sehr kreativ tätig, sowohl im Text als auch in der optischen Gestaltung. Entsprechend gespannt sind wir, ob sein Aussehen genau das widerspiegelt.
Und das tut es tatsächlich.
Vor uns sitzt ein blonder, junger Mann, mit präzise wild-gestylter Frisur, Ohrringen, einem Augenbrauenpiercing und Ringen an den Fingern.
Ich bin mir sogar ganz sicher, dass er auch Make-Up trägt. Seine Haut sieht viel zu glatt aus, als die eines Mannes seines Alters aussehen sollte. Sein Gesicht ist penibel glatt rasiert - nicht mal der Ansatz von Bartstoppel ist zu erkennen.
Seine hellen Augen leuchten mit derselben Freude, die auch sein Lächeln zeigt. Ganz sicher hat er auch diese noch ein wenig mit Eyeliner und Lidschatten verfeinert, um sie besser hervorzuheben.
Bevor wir ins Gespräch einsteigen, entschuldige ich mich dafür, mit dem Essen vor ihm zu sitzen und erkläre meine Umstände.
Er zeigt Verständnis, freut sich aber auch für mich. Ehrlich gesagt, freut er sich ein wenig zu sehr über meine Schwangerschaft und beginnt von den Gefühlen einer solchen zu sinnieren und zu schwärmen.
»Ich bin schwanger, aber keine emotionale Katastrophe«, unterbreche ich ihn in seiner Euphorie und mache ihm somit direkt klar, dass er hier nicht seinen Freundinnen gegenüber sitzt, sondern seinen potentiellen Chefinnen - und auch, dass meine Ernsthaftigkeit ebenso ernst genommen werden sollte und nicht hormonell bedingt ist.
Er räuspert und entschuldigt sich, während mir Naddy für meinen harschen Ton eine hochgezogene Augenbraue schenkt.
Erst dann nimmt sie das Zepter in die Hand und beginnt das eigentliche Gespräch. Ich sitze nur schweigend daneben und mustere die Mimik von Nick, während er auf die unzähligen Fragen von Naddy antwortet und dabei von seinem kreativen Ideenreichtum erzählt.
Naddy ist sichtlich begeistert von ihm und lädt ihn auch direkt dazu ein, noch heute ein kleines Probearbeiten zu absolvieren, damit er uns mehr von seiner Kreativität zeigen kann.
Er stimmt zu und wird umgehend von ihr in eines der Büros gebracht. Zum einen, um direkt auch die anderen kennenzulernen, als auch zu sehen, wie die Arbeit bei und mit uns aussehen wird.
Mit seinen siebenundzwanzig Jahren passt er auch alterlich in unsere Gruppe, und bisher macht er einen unglaublich sympathischen Eindruck.

»Na, was denkst du?«, fragt Naddy grinsend, als sie zu mir zurückkommt.
»Schwul«, antworte ich nickend, weil ich zu verstehen glaube, worauf sie mit ihrer Frage hinaus will und schiebe mir eine handvoll Chips in den Mund.
»Das ist unverkennbar«, antwortet sie und setzt sich wieder neben mich. »Ich wollte aber eigentlich wissen, was du über ihn denkst; was du von ihm hältst?«
»Oh«, stoße ich peinlich berührt aus und trinke einen Schluck von meinem Tomatensaft, um die Chips besser runterspülen zu können. »Ich denke, er passt sehr gut in unser Team.«
»Ja, das denke ich auch.« Jetzt grinst sie mich wieder an. »Wenn das so weitergeht, können wir unser Corporate Design ändern.«
Fragend sehe ich sie an.
»Das grün-braun durch Regenbogenfarben ersetzen«, frotzelt sie, deutet auf mich und dann zur Tür, durch diese sie Nick eben geführt hat.
Jetzt bin ich es, die ihre Augenbraue musternd hebt.
»Bei Honey bin ich mir noch unsicher, aber ich glaube, der ist auch vom anderen Ufer«, rätselt sie über unseren koreanischen Angestellten, dessen richtigen Namen wir nicht aussprechen können, und ihn deshalb so nennen. »Was sagt denn dein Gay-Dar bei ihm?«
»Gay-Dar?« Mit gerunzelter Stirn sehe ich sie an. »Ich besitze sowas nicht.«
Als wäre sie darüber enttäuscht, seufzt sie. »Dann muss ich das wohl nachher Nick fragen. Oder aber Jolene, die besitzt ganz sicher einen Gay-Dar«, spricht sie fast schon gackernd und deutet dabei auf mich.
»Wenn sie einen hat, dann hat er bei mir versagt.« Ich verdrehe kopfschüttelnd die Augen.
»Versagt?« Erneut zieht sie die Augenbraue nach oben, lacht dann aber spöttisch. »Lebst du mit ihr zusammen? Hast du Sex mit ihr? Bist du mit ihr verheiratet? Und trägst du ein Kind, dass du mit ihr bekommst? Ihr Gay-Dar hat also bei dir alles andere als versagt. Er war sogar ziemlich präzise.« Neckisch klopft sie mir gegen die Schulter, zwinkert mir zu und steht dann auf.
Erneut verdrehe genervt die Augen. »Wird Zeit, dass du auch endlich schwanger wirst.«
Zumindest Momente wie diese, lassen mich das wünschen, denn als Naddy damals mit Samantha schwanger war, war sie ein ganz anderer Mensch. Nicht so aufgekratzt, sehr entspannt und ruhig; ausgeglichen eben. Sie hat weniger mit dummen Sprüchen um sich geworfen, und mich auch nicht bei jeder Gelegenheit geneckt.
Natürlich liebe ich sie gerade für diese Eigenschaften, aber in Momenten wie diesen ...
»Wieso dauert das überhaupt so lange bei euch?«, frage ich sie schließlich. Immerhin hat sie einen funktionsfähigen Mann, mit dem sie diese Planung jederzeit umsetzen kann und auf keinerlei Spenden angewiesen ist.
»Damit ich schwanger werde, müssten wir ja erstmal Sex haben«, gibt sie grunzend - und auch etwas zynisch - von sich.
Überrascht sehe ich sie an.
»Jonas hat ganz andere Arbeitszeiten als ich, Cait«, erklärt sie und erinnert mich zugleich daran. »Wenn er von der Arbeit kommt, schlafe ich schon. Wenn ich zur Arbeit gehe, schläft er noch.«
»Und?«, antworte ich verständnislos. »Denk an Jolenes Beweggründe für unsere Einzelbüros«, fahre ich grinsend fort. »Lade ihn zu dir ins Büro ein, bevor er zur Arbeit muss, verschließt die Tür und ...« Mit meinen Händen gestikuliere ich, was ich meine; dabei zucke ich wild mit meinen Augenbrauen.
Naddy sieht mich zunächst überrascht an und legt ihre Hand prüfend auf meine Stirn.
»Die Schwangerschaft stampft all deine Hemmungen ein. Das macht mir Angst«, sagt sie fassungslos, schüttelt den Kopf und verlässt den Raum.
Ich hingegen lasse mich in den Stuhl zurückfallen und schiebe mir schmunzelnd eine weitere handvoll Chips in den Mund, die ich genüsslich kaue.

Am Tag danach haben wir das nächste Gespräch mit einer Bewerberin.
Sasha Hopkins, fünfunddreißig Jahre alt, dunkelblonde, lange Haare, leicht gewellt mit hellen Strähnen, und grün-grauen Augen.
Ihr Profil hat mir von allen am besten gefallen, aber auch ihr persönliches Erscheinen ist einprägsam. Ihre Ausstrahlung ist sagenhaft und unglaublich positiv.
Das selbstbewusste Auftreten erinnert mich ein wenig an Morgan ... nur mit deutlich weniger Arschloch-Anteilen.
Für mich besteht keinerlei Zweifel, so dass ich sie am liebsten noch am selben Tag hier behalten möchte.
Mit ihrer fröhlichen und ungehemmten Art kommt sie im Team sofort gut an und hat keinerlei Scheu, sich mit unseren bisherigen Angestellten zu unterhalten und auch schon erste Ideen in den Raum zu werfen. Dabei ist sie aber keineswegs aufdringlich, und deshalb bin ich mir ganz sicher, dass sie uns einfach nur bereichern wird.
Ihr Wissen und ihre Kenntnisse sind so gut, da habe ich keinerlei Bedenken, ihr von Anfang an ein Projekt zu geben.
Die Chemie stimmt einfach, und ich kann mich stolz schätzen, sie in meinem Team zu haben. Selbst Naddy beneidet mich dafür und hat bereits angedeutet, sich Sasha mal hin und wieder zu stibitzen, wenn sie Unterstützung braucht.

So geht es dann auch die ganze nächste Woche weiter. Jeden Tag stehen Gespräche an. An zwei Tagen haben wir sogar zwei Bewerber nacheinander da. Die sind allerdings für die Marketing-Abteilung, weshalb meine Mutter und Jolene diese Gespräche übernehmen. Immerhin wissen sie am besten, welche Fähigkeiten ins entsprechende Profil zur Stelle passen.
Ich selbst bin auf der Arbeit eher passiv aktiv, weil Naddy jegliche Tätigkeit, die für mich Stress bedeuten könnte, von mir fernhalten möchte.
Also bastle ich vermehrt an Aufträgen, die keine enge Deadline haben, um mich selbst nicht unter Druck zu setzen. Gespräche mit Kunden und Auftraggebern wohne ich nur bei, wenn diese Besprechungen entspannt ablaufen und einfache Verhandlungen sind.
Zu meiner Überraschung bin ich aber nicht eine Sekunde gelangweilt, wovon ich tatsächlich aber ausgegangen bin.
Ich selbst bin völlig entspannt und gehe jeden Tag ruhig an. Wenn mir der Kopf brennt, verlasse ich einfach mein Büro, und setze mich entweder zu den anderen ins Büro, um ein wenig soziale Kontakte zu haben, oder aber ich spaziere einfach so durch die Gänge, um mit dem einen oder anderen eine Unterhaltung zu führen.
Hin und wieder ein Plausch in der Küche oder im Aufenthaltsraum, oder ein kleines Spielchen am Tischkicker lassen die Zeit angenehm schnell vergehen.
Gerade die Spielereien mit dem Tischfußball machen mir einen Heidenspaß, auch wenn ich darin überhaupt nicht gut bin. Hin und wieder schaffe ich es sogar, den kleinen Ball aus dem Tisch heraus durch den Raum zu katapultieren. Einmal flog er sogar knapp am Gesicht von Sasha vorbei, die an der Seite des gegnerischen Tors stand, und freudestrahlend die Score-Schieber bewegte, wenn ich getroffen habe -manchmal half sie mir aber auch dabei, in dem sie den Torwart meines Gegners festhielt, so dass dieser mein lasches Schüsschen nicht aufhalten konnte.

Jolene (+Family)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt